Interview
Kanzler Faymann attackiert Orban
12.09.2015
Bundeskanzler: "Erinnert an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte."
Eine Gruppe von Polizisten wirft Plastiksackerl mit Semmeln in das Flüchtlingslager Röszke in Ungarn. Hunderte Menschen versuchen, ein Stück Brot zu erhaschen. Eine erschreckende Szene, die auf Video festgehalten wurde und via YouTube um die Welt ging. Ein Film, der neuerlich belegt, wie schlimm die Situation für die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Ungarn bleibt.
Ab Dienstag wird sich die Lage für die Flüchtenden – sie kamen bislang durch die Stacheldrahtzäune an der serbisch-ungarischen Grenze – weiter verschlechtern. Denn dann wird das neue Gesetz von Viktor Orbán in Kraft treten, wonach Flüchtlinge, die „illegal“ nach Ungarn kommen, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden sollen.
Flüchtlingen drohen ab 15. 10. drei Jahre Haft in Ungarn
Im Interview mit der deutschen Tageszeitung Bild zeigt sich der umstrittene ungarische Premier einmal mehr unerbittlich: Jene, die nach Ungarn flüchten würden, seien „Wirtschaftsflüchtlinge“. Orbán will sie „zurückschicken“.
Bevor das neue ungarische Gesetz gilt, werden deutschen Schätzungen zufolge weitere 40.000 Flüchtlinge bis Montag versuchen, Deutschland zu erreichen. In Österreich rechnet man mit täglich 4.000 Menschen, die hier ankommen.
Bis Jahresende erwartet Berlin gar bis zu 500.000 Flüchtlinge. Der Großteil müsste über Österreich reisen. Kanzler Faymann rechnet damit, dass 50.000 in Österreich um Asyl ansuchen werden (siehe Interview).
Asylwerber und Schlepper arbeiten freilich bereits an Ausweichrouten. Statt wie bislang nach Mazedonien über Serbien nach Ungarn zu marschieren, könnten die Flüchtlinge zukünftig versuchen, via Kroatien nach Österreich und Deutschland zu kommen.
Ungarns Premier über die Flüchtlinge:
"Kein Grundrecht auf ein besseres Leben"
➜ Über Flüchtlinge: „Sie sollen dorthin zurück, wo sie herkamen. Die Migranten kommen ja nicht aus dem Kriegsgebiet zu uns, sondern aus Lagern in Syriens Nachbarstaaten: aus dem Libanon, Jordanien, der Türkei."
➜ Über Fluchtgründe: „Sie kommen nicht nach Europa, weil sie Sicherheit suchen, sondern weil sie ein besseres Leben haben wollen als in den Lagern.“
➜ Über Menschenrechte: „Es gibt kein Grundrecht auf ein besseres Leben, nur ein Grundrecht auf Sicherheit und Menschenwürde.“
➜ Über EU-Politiker: „Die leben in einer Traumwelt. Sie haben keine Ahnung von der Gefahr, die die Einwanderer für uns bedeuten.“
➜ Über die Oberschurkenrolle: „Ich stehe hier, kann nicht anders. Die Flüchtlinge werden lernen, dass der Honig, der in Deutschland fließt, weniger süß ist. Ein gutes Leben ist eine Frage der Leistung, nicht der Ansprüche.“
Faymann bildet Achse mit Merkel
Wien/Budapest/Berlin. Dass Werner Faymann im ÖSTERREICH-Interview meint, dass ihn die Flüchtlingspolitik von Ungarns Premier Viktor Orbán an den Holocaust erinnere, sorgt in Budapest für Zoff. Ungarns Außenminister Péter Szijjártó wirft Faymann nun „einen Amoklauf und eine Lügenkampagne gegen Ungarn“ vor.
Der Bündnispartner von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, die CSU, hat den umstrittenen Budapester Premier hingegen nach Bayern eingeladen.
Faymann wiederum baut auf eine Allianz mit Merkel
Er sei in permanentem Kontakt mit Deutschlands Kanzlerin, betont denn auch das heimische Kanzleramt. Am Dienstag, einen Tag nach dem Sondergipfel der EU-Innenminister, wird Faymann mit Merkel und EU-Ratspräsident Donald Tusk eine Telefonkonferenz abhalten. Rund 30.000 Flüchtlinge haben Deutschland in der vergangenen Woche über Ungarn und Österreich erreicht. In Wien wächst nun die Sorge, dass Berlin die Grenzen für Flüchtlinge wieder dichtmachen könnte. Vergangenes Wochenende hatte Österreich – in Absprache mit Deutschland – über 22.000 Flüchtlinge nach Deutschland gebracht.
Merkel soll aber seit Donnerstag deutlich signalisieren, dass das wieder gestoppt werden müsse. Im ÖSTERREICH-Interview forciert Faymann jedenfalls weiter einen Sondergipfel der EU-Regierungschefs, um die Flüchtlingskrise gemeinsam zu lösen.
"Ziehe den Hut vor Angela Merkels Menschlichkeit"
ÖSTERREICH: Auf wie viele Flüchtlinge muss sich Österreich noch einstellen?
Werner Faymann: Die deutsche Regierung schätzt, dass alleine heuer noch 300.000 bis 500.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden – etwa so viele werden den Weg durch Österreich nehmen. Maximal ein Zehntel, also doch 30.000 bis 50.000 davon, wird bei uns um Asyl ansuchen. Wenn wir bedenken, dass das alles in einem Zeitraum von rund 100 Tagen zu erwarten ist, heißt das: 3.000 bis 5.000 Flüchtlinge pro Tag werden durch Österreich durchreisen, 300 bis 500 täglich werden um Asyl ansuchen. Auf diese Zahlen müssen wir uns einstellen und vorbereiten.
ÖSTERREICH: Droht da nicht ein Chaos, wenn Ungarn einfach alle Flüchtlinge weiterschickt?
Faymann: Die Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden war in der Vergangenheit schlecht. So schlecht, dass wir nicht einmal ordentliche Informationen erhalten, wie viele Flüchtlinge wo gerade weggefahren sind oder Richtung Österreich geschickt worden sind. Die Informationen der Ungarn sind einer europäischen Zusammenarbeit unwürdig – das erfordert unseren ganzen Einsatz.
ÖSTERREICH: Hängt unser Schicksal in der Flüchtlingsfrage komplett von der deutschen Politik ab?
Faymann: Der zentrale Punkt ist: Wie gut funktioniert die Koordination mit Deutschland? Werden alle Asylsuchenden, die nach Deutschland wollen, auch von Deutschland ins Land gelassen? Sobald Deutschland seine Grenze bürokratisch schließt, würde eine humanitäre Katastrophe entstehen. Denn viele Flüchtlinge sind durch ihre lange Reise auch durch Ungarn traumatisiert, dass sie solche Angst, ja geradezu Panik haben, dass sie zu allem entschlossen sind. Die gehen auch zu Fuß nach Deutschland. Ich bin sehr froh, dass diese Zusammenarbeit funktioniert. Ich stehe in permanentem Kontakt mit Angela Merkel, und ich bewundere ihre menschliche Position in dieser Frage. Sie hat gesagt, das Menschenrecht auf Asyl gilt. Das sind klare Worte gegen viel Widerstand auch in Deutschland. Ich ziehe den Hut vor der vorbildlichen Einstellung von Angela Merkel – hätten alle europäischen Politiker diese Einstellung, hätten wir bei der Flüchtlingsverteilung kein Problem.
ÖSTERREICH: Sie sehen das als historische Herausforderung?
Faymann: Ich bin mir sicher, dass sich in Geschichtsbüchern einmal die Frage finden wird: Wie hat Europa diese Flüchtlingskatastrophe 2015 gelöst? Und dass die Flüchtlinge dann sagen werden: Österreich und Deutschland haben uns geholfen. Aber es wird, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, auch die Frage gestellt werden: Wie viele sind auf dem Weg nach Deutschland zu Tode gekommen? Wer war unmenschlich?
ÖSTERREICH: Die Ungarn haben im Moment ein unglaubliches Flüchtlings-Chaos …
Faymann: So, wie die Ungarn die Asylsuchenden behandeln, geht das nicht. Die Ungarn haben laut Innenministerium nur 6.000 Betreuungsplätze – wir Österreicher haben 50.000 und schaffen gerade 20.000 neue. Die Ungarn haben völlig undurchschaubare Asylverfahren mit sehr geringer Anerkennungsquote. Vor allem aber ist es unzumutbar, dass die Flüchtlinge auch aus Ungarn mit Angst, Panik, hungernd und teilweise traumatisiert kommen. Wenn hier Züge, die in die Freiheit führen sollen, plötzlich in Lager umgeleitet werden, dann erinnert mich das an dunkle Zeiten unserer Geschichte.
ÖSTERREICH: Sie kritisieren Orbán?
Faymann: Ich beschimpfe ihn nicht, weil sich das für Nachbarn nicht gehört. Aber ich sage: So geht’s nicht. Flüchtlingen darf keine Angst eingejagt werden.
ÖSTERREICH: Was geschieht jetzt?
Faymann: Die EU sollte an der ungarischen Außengrenze gemeinsam mit dem UNHCR Hotspots einrichten, die das Asylrecht der Ankommenden nach EU-Standards prüfen und sie dann gleich gerecht verteilen.
ÖSTERREICH: Wird sich die EU auf die von der Kommission vorgeschlagenen Quoten einigen?
Faymann: Ich hoffe es, bin aber skeptisch. Ich habe gleich nach dem Treffen der Innenminister am Montag für Dienstag eine Telefonkonferenz mit Angela Merkel und Ratspräsident Tusk. Es muss die weitere Vorgangsweise festgelegt werden. Ich bin für einen Sondergipfel der Regierungschefs noch im September, wo wir versuchen, eine Einigung auf die Quote, die wir dann zum Regelsystem weiterentwickeln müssen, und auf Hotspots an den Außengrenzen zu erzielen. Ich bin Realist und weiß, dass wir wohl einige Sondergipfel für eine gerechte Lösung benötigen werden – aber auch Optimist und rechne mit einer EU-Initiative noch in diesem Jahr.
Interview: Wolfgang Fellner