Wiener Antisemitismus-Konferenz
Lage der Juden in Europa "schlimmer und schlimmer"
21.11.2018
Bei einer EU-Konferenz gegen Antisemitismus sind die Mitgliedsstaaten zu vermehrten Anstrengungen aufgerufen worden, die Juden in Europa zu schützen. Man müsse von den Worten zu Taten kommen, sagte der Vizepräsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC), Ariel Muzicant, am Mittwoch in Wien. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) drängte auf eine gemeinsame EU-Erklärung gegen Antisemitismus.
"Es ist fünf nach zwölf"
"Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist fünf nach zwölf", zeichnete Muzicant ein dramatisches Bild der Lage. "Wir stehen am Scheideweg. Die nächsten Monate und Jahre sind entscheidend dafür, was mit den 1,5 Millionen Juden passiert, die auf diesem Kontinent leben." In Österreich nehme zwar der Antisemitismus zu, "aber wir haben nicht die Gewalt und Morde wie sie in Frankreich, England, Schweden und vielen anderen Ländern passieren", sagte der frühere Präsident der Israelischen Kultusgemeinde (IKG). Die Lage der Juden in Europa werde "schlimmer und schlimmer", so Muzicant.
Nur noch 20 Prozent der europäischen Juden fühlen sich an ihrem Wohnort sehr sicher, zeigt eine am Dienstag veröffentlichte Umfrage unter jüdischen Führungspersönlichkeiten. Vor zehn Jahren seien es noch 36 Prozent gewesen. Die Zahl derjenigen, die sich sehr unsicher fühlen, ist im selben Zeitraum von sechs auf 13 Prozent gestiegen. Und dies, obwohl 73 Prozent der Befragten angaben, dass die jeweiligen Regierungen angemessen mit den Sicherheitsbedürfnissen der Juden umgehen.
Spitzenvertreter der jüdischen Gemeinden
Der österreichische EU-Ratsvorsitz hatte Spitzenvertreter der jüdischen Gemeinden, Politiker und Experten in die Wiener Börsesäle geladen, um gemeinsam über Wege zum Schutz des jüdischen Lebens zu diskutieren. Die Teilnehmer der knapp dreistündigen Konferenz, darunter EU-Justizkommissarin Vera Jourova und EVP-Fraktionschef Manfred Weber, waren sich dabei einig, dass mehr getan werden muss. Als konkreter Schritt wurde ein Handbuch gegen Antisemitismus präsentiert, das von Experten im Auftrag des EJC erarbeitet wurde. EJC-Präsident Moshe Kantor appellierte: "Bitte kämpft gegen den Antisemitismus, nicht für die Juden, sondern für uns alle."
Kurz äußerte die Hoffnung, dass dem EU-Ratsvorsitz die Einigung auf eine gemeinsame Antisemitismus-Definition gelingen wird. Dies wäre ein "wichtiger Schritt", damit Juden sicher in Europa leben können. In einer Videobotschaft forderte auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu "alle Regierungen" auf, die internationale Antisemitismus-Definition zu akzeptieren. Muzicant äußerte sich diesbezüglich kritisch zu jenen EU-Staaten, die "aus irgendwelchen dummen Gründen" auf der Bremse stünden. "Wir haben immer noch fünf, sechs Staaten, die diese Erklärung nicht unterzeichnen wollen", berichtete er.
Weber bezeichnete die Frage des Umgangs mit den neuen Kommunikationsformen als den "wichtigsten Punkt" im Kampf gegen den Antisemitismus und drohte diesbezüglich den Betreibern von sozialen Medien. Sollten diese Terrorwerbung, Fake News oder Antisemitismus nicht unterbinden, müsse der europäische Gesetzgeber "mit aller Härte" die europäischen Prinzipien durchsetzen, indem er "klare Regelungen" setze, sagte der deutsche Christsoziale. "Was in der realen, gedruckten Welt nicht erlaubt ist, darf auch in den sozialen Medien nicht erlaubt sein."
Kurz: "Anderes Verständnis zu Israel"
"Das wichtigste ist, nicht wegzuschauen", sagte Bundeskanzler Kurz. Er verwies aber auch auf die Bedeutung einer geregelten Migrationspolitik. "Wir sollten nur so viele Menschen in ein Land lassen wie wir auch integrieren können", verwies er auf das "Problem" eines nicht organisierten Zustroms aus muslimischen Ländern, deren Bewohner "ein anderes Verständnis von Israel" hätten, so Kurz, der bei der Konferenz auch sein Engagement für Israel bekräftigte und den EU-Staaten vorwarf, zu wenig Verständnis für dessen Sicherheitsbedürfnisse zu haben.
EU-Justizkommissarin Jourova nahm bei der Konferenz auch die Zivilgesellschaft in die Pflicht, die Antisemitismus nicht "still akzeptieren" dürfe. Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) verwies aber auch auf die Politik. "Es liegt an uns Politikern, dass Antisemitismus nicht gesellschaftlich akzeptiert wird", sagte er. Zugleich warnte er davor, "das Bild zu vermitteln, dass alle muslimischen Migranten antisemitisch seien".
Fälle von Antisemitismus im Internet auch verfolgen
"Egal in welcher Form: Antisemitismus muss verurteilt werden", betonte die Staatssekretärin im Innenministerium, Karoline Edtstadler (ÖVP). Fälle vom Antisemitismus im Internet müssen verfolgt werden, "denn Worte können zu Taten werden", mahnte die ehemalige Richterin. Kurz verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass Österreich aufgrund seiner Geschichte besonders strenge Gesetze habe.
Bereits am Montag und Dienstag hatte Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) zu einer EU-Konferenz geladen, bei der der Antisemitismus ebenfalls Thema war. Der Kampf gegen den politischen Islam und den Antisemitismus "müssen sichtbarer auf der EU-Agenda stehen", bilanzierte Kickl am Mittwoch die Zusammenkunft, an der neben Experten unter anderem der belgische Innenminister Jan Jambon und der deutsche Staatssekretär Hans-Georg Engelke teilgenommen hatten. Der Präsident der Israelischen Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch, hatte eine Einladung zu Kickls Konferenz ausgeschlagen.