Bestsellerautor Andreas Salcher spricht im Interview über das Pisa-Debakel.
Das ganze Ausmaß des Debakels wird uns zwar erst am 7. Dezember serviert, aber schon jetzt scheint sicher: Auch die Ergebnisse des neuen PISA-Tests (67 Länder nehmen teil) machen uns zu Losern. Sie sind ein echtes Debakel. Via OECD-Studie PISA wurden diesmal die Fähigkeiten der Schüler in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften im Alter von 15 Jahren gecheckt.
"Keine Überraschung"
Insider, die schon einen ersten Blick auf die Ergebnisse werfen konnten, meinen: "In Lesen kann man in Österreich nicht mehr von einer Lesestärke, sondern nur mehr von einer Leseschwäche sprechen.“ Für Bildungsexperten und Bestseller-Autor Andreas Salcher ist das drohende "Nicht genügend“ keine Überraschung. "In den letzten Jahren haben zahlreiche andere Studien auf die Leseschwäche hingewiesen, bis jetzt hat man diese Ergebnisse immer ignoriert.“
"Müssen die Wende schaffen, sonst haben wir den Status eines Entwicklungslandes"
ÖSTERREICH im Gespräch mit Schulexperte Andreas Salcher
ÖSTERREICH: Herr Salcher, kann man von einer nationalen Schande sprechen, wenn unsere Schüler – wie im PISA-Test ermittelt – mit 15 nicht lesen können?
Andreas Salcher: Ja, das kann man sagen. Denn die Relation zwischen Aufwand – wir haben das viertteuerste Schulsystem der Welt – und Ergebnis ist unfassbar. Vor allem, wenn es um die grundlegendste Aufgabe der Schule geht – Lesen und Schreiben. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist einfach untragbar, wenn jeder fünfte 15-Jährige in Österreich ein funktionaler Analphabet ist. Denn eines dürfen wir nicht vergessen: Wer nicht lesen kann, kann auch nicht schreiben. Das kann ein Land wie Österreich nicht akzeptieren. Hierzulande wird die Qualität des Unterrichts leider immer nur an der Anzahl der gehaltenen Stunden gemessen, aber es wird nicht evaluiert, was dabei rauskommt.
ÖSTERREICH: Also das Problem liegt im Unterricht ...
Salcher: In Österreich wird zu viel und zu schlecht unterrichtet. Das System lässt es zu, dass nach wie vor mit sehr veralteten Methoden unterrichtet wird. Es ist sehr innovationsfeindlich. So wird nicht die Lerntypenforschung angewendet. Das bedeutet das Eingehen auf individuell unterschiedliche Lernfähigkeiten. Dieses Know-how kennen viele Lehrer bei uns überhaupt nicht. Die Skandinavier haben mit dieser Methode sehr gute Erfolge, aber bei uns ignoriert man diese Unterrichts-Innovation. Das wäre so, als wenn man in der Medizin noch den Holzhammer für die Narkose einsetzt.
ÖSTERREICH: Was kann man gegen die Leseschwäche der Kinder tun?
Salcher: Die soziale Diskriminierung im österreichischen Schulsystem ist sehr hoch, besonders jene der Migranten und der bildungsfernen Schichten. Hier muss die Schule massiv entgegenwirken. Denn wenn es im Elternhaus keine Bücher gibt, wenn keine Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen werden, wenn die Kinder ihre Eltern nie lesen sehen, dann darf man sich nicht erwarten, dass hier ein großes Leseinteresse vorhanden ist.
ÖSTERREICH: Was muss jetzt geschehen, damit unsere Kinder wieder richtig lesen lernen?
Salcher: Es muss einen Aufschrei in diesem Land geben und es muss ein nationaler Plan entwickelt werden. Es muss möglich sein, dass Kinder in vier Jahren Volksschule lesen und schreiben lernen. Und es muss möglich sein, dass Kinder in neun Jahren Pflichtschule die Grundrechnungsarten beherrschen. Wenn wir das nicht schaffen, haben wir den Status eines Entwicklungslandes. Wir müssen das schaffen!
ÖSTERREICH: Als die PISA-Ergebnisse in Mathematik enttäuschend waren, konnte man die Misere noch auf das fehlende Mathematikverständnis zurückführen. Aber bedeutet, nicht lesen zu können, nicht auch den Niedergang der Bildung im Land ...
Salcher: Die Skandinavier haben hier einen anderen Zugang. Die sagen, es gibt auch einen Zusammenhang zwischen nicht lesen und nicht rechnen können. Lesen ist die Grundvoraussetzung für alles, was mit dem Lernen zu tun hat. Wenn in beiden Bereichen Defizite da sind, dann hat das zu einem hohen Ausmaß einen pädagogischen Hintergrund. Denn den Kindern wird in der Volksschule und in der Unterstufe jedes Interesse an Naturwissenschaften genommen, weil nur Formeln auswendig gelernt werden müssen. Dann darf man sich nicht wundern, wenn es wenig Interesse für die Technischen Universitäten gibt.
ÖSTERREICH: Wer trägt die politische Schuld an der Lese-Misere in Österreich?
Salcher: Wir brauchen auf jeden Fall keine Diskussion, ob der Bund oder die Länder die Budgethoheit über die Lehrergehälter hat. Die beiden Großparteien müssten sofort die gegenseitigen Schuldzuweisungen stoppen. Denn sie tragen zu gleichen Teilen Schuld an den Unterrichtsdefiziten. Was wir auch nicht brauchen, ist wieder eine Experten-Kommission, die Ursachenforschung betreibt. Die Ursachen sind bekannt, hier sind sich alle Forscher einig. Es müssen jetzt Bildungsstandards definiert werden und diese müssen regelmäßig überprüft werden.
ÖSTERREICH: Könnte es langfristig bedeuten, dass Firmen ins Ausland abwandern, weil sie in Österreich keine qualifizierten Mitarbeiter finden?
Salcher: Die Ersten, die ein Bildungsdefizit spüren, sind die Unternehmen. Aber in Österreich ist es so, dass die oberen zwei Drittel immer noch sehr gut qualifiziert sind. Das Problem ist eher, dass man eine Schicht heranzüchtet, die ihr Leben aus Transferleistungen bestreitet.
ÖSTERREICH: Meinen Sie damit, dass es Probleme bei den Lehrlingen geben wird?
Salcher: Nein, damit meine ich nicht die Lehrlinge, sondern eine Stufe darunter, jene Jugendlichen, die überhaupt keine Lehrstelle finden. Es gibt Firmen, die von zehn Bewerbern nur einem eine Lehrstelle geben, weil die Bewerber nicht ausreichend lesen und schreiben können. Viele Firmen berichten mir, dass unsere Pflichtschul-Absolventen nicht einmal die Mehrwertsteuer von zwanzig Prozent ausrechnen können. Das ist wirklich bedenklich.
ÖSTERREICH: Wie schnell muss gehandelt werden, um bald wieder bessere Ergebnisse bei PISA & Co. zu erzielen?
Salcher: Es muss schnell gehandelt werden. Denn das Schulsystem ist wie ein Riesen-Tanker im Ärmelkanal. Den kann man auch nicht so schnell um 180 Grad drehen. Bis sich im Schulsystem etwas bewegt, dauert es. Deswegen müssen wir hier jetzt Gas geben. Wenn die Kinder mit 15 die Pflichtschuljahre absolviert haben, dann sind sie für den Staat verloren. Auf diese Jugendlichen hat man keinen Einfluss mehr. Und je länger wir nichts unternehmen, desto schneller wächst die Gruppe der völlig Chancenlosen.