Der am Donnerstag angekündigten Rückzug von ÖVP-Chef Sebastian Kurz aus der Politik ist auch Inhalt zahlreicher internationaler Pressekommentare:
"Il sole 24 ore" (Mailand):
"Vom Wunderkind zum Baby-Pensionisten der österreichischen Politik. Das ist die Parabel von Sebastian Kurz, dem ehemaligen Bundeskanzler, gegen den wegen Beihilfe zur Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder ermittelt wird, der seinen Abschied aus der Politik angekündigt hat und damit auch seinen Rücktritt als Vorsitzender und Klubobmann der Volkspartei ÖVP."
"Corriere della sera" (Mailand):
"Der einzige persönliche Aspekt der Entscheidung des 35-jährigen Kurz ist das Bewusstsein, dass er in seiner Partei keine Unterstützung mehr hat und auch nicht die Möglichkeit, das Kanzleramt zurückzuerobern. (...) Nun sollen beide Rollen, Bundeskanzler und ÖVP-Chef, vom derzeitigen Innenminister Karl Nehammer, 49 Jahre alt, übernommen werden. Der gelernte "Soldat" (...) und Mitglied der Volkspartei ist politisch in seinem Heimatland Niederösterreich groß geworden und hat sich stets loyal gegenüber dem Apparat verhalten. Aber er hat auch das Vertrauen von Kurz: die richtige Figur, um den Machtwechsel innerhalb der Partei zu managen. Vorausgesetzt, die Grünen kommen ihm nicht in die Quere: Seine harte Haltung zur Einwanderung wird von den Regierungspartnern der ÖVP nicht geschätzt."
"The Washington Post":
"Er veränderte die österreichische Politik und verschaffte dem 9-Millionen-Einwohner-Land einen zeitweise übergroßen Einfluss in der Europäischen Union (...) und erwarb sich den Ruf, Reformprojekte zu verzögern. Mit seiner harten Haltung zur Migration, seinem jugendlichen Auftreten und seinen schicken Anzügen sprach er Österreichs Mitte-Rechts- und konservative Wähler an. Die Konservativen in den Nachbarländern bewunderten Kurz' Fähigkeit, unter einer polierten, medienwirksamen Fassade streng konservative Werte zu vertreten, auch wenn er viele seiner Versprechen nicht einlöste."
"New York Times":
"Der doppelte Abgang führte zu einem neuerlichen Angstschock in der unruhigen österreichischen Politik, die in den vergangenen zwei Monaten durch den abrupten Rücktritt von Herrn Kurz als Bundeskanzler aufgewühlt wurde. (...) Viele glauben jedoch, dass Kurz, der 2017 mit 31 Jahren einer der jüngsten demokratisch gewählten Regierungschefs der Welt wurde, sich nicht für immer aus der Politik zurückziehen wird."
"Frankfurter Allgemeine Zeitung":
"Der kometenhafte Aufstieg dieses jungen Politikers steht exemplarisch für die Verunsicherung des bürgerlichen Lagers nicht nur in Österreich. Früher als andere Konservative erkannte Kurz die gesellschaftliche Sprengkraft, die in ungeregelter Migration liegt. Dass er aus der Honoratiorenpartei ÖVP eine Bewegung machte, die auf ihn persönlich zugeschnitten war, wäre ohne die Flüchtlingskrise 2015 kaum möglich gewesen. Sein Sturz wiederum zeigt, dass auch vermeintliche Heilsbringer nicht immun sind gegen die Versuchungen der Macht. Kurz tritt ab, aber sein Modell lebt fort, etwa bei den Republikanern in Frankreich. Nur die Union in Deutschland blickt weiter nach links."
"Süddeutsche Zeitung" (München):
"Politik wurde unter ihm zum Selbstzweck und zur Selbstbedienung. Darauf weisen jedenfalls die Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft hin, die sich gegen das enge Umfeld des Ex-Kanzlers richten und die zeigen, dass seine sich selbst als "Prätorianer" bezeichnenden Helfer den Staat als Eigentum und den Rechtsstaat als Mühsal betrachteten. Wenn man seine Befragungen vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss, das Vernehmungsprotokoll vor einem Richter, seine Pressekonferenzen, seine Rücktrittserklärung las und hörte, dann präsentierte Kurz sich immer als Mann des Ausweichens und der Ausreden. Einer, der andere schlecht aussehen ließ und im Zweifel alte Freunde nicht mehr kannte. Der keine Verantwortung übernahm, wo er sie ganz offensichtlich trug. Ein kleiner Geist mit großem Ego."
"Zeit online" (Hamburg):
"Von seinem großen Aufstieg bis zu seinem Fall sind nur sechs Jahre vergangen. Doch Sebastian Kurz hat in dieser kurzen Zeit die politische Kultur Österreichs maßgeblich geprägt. Er hat polarisiert und Tabus gebrochen, so wie einst Jörg Haider. Und so wie der verstorbene Rechtspopulist hat sich auch Kurz die eigene Partei untertan gemacht, alles auf seine Person zugeschnitten - und hatte damit so großen Erfolg, dass er vielen in Europa als leuchtendes Vorbild galt."
"Der Spiegel online" (Hamburg):
"Ein Mann der Superlative ist er geblieben: Kurz ist nicht nur jüngster Altkanzler, sondern auch jüngster Politrentner. Zumindest bis auf Weiteres, denn nach einem Abschied für alle Zeiten klang er heute nicht unbedingt. Mit Blick auf den Korruptionsverdacht merkte er an, dass sich die Verfahren noch Jahre hinziehen könnten. Doch die Vorwürfe gegen ihn würden sich irgendwann als falsch herausstellen, sagte Kurz: "Ich freue mich auf den Tag." Ob er bei erwiesener Unschuld bereit wäre, noch einmal in die Politik zu gehen, konnte man Kurz nicht fragen."
"Die Welt" (Berlin):
"Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die politischen Karrieren von Kurz und Deutschlands geschäftsführender Kanzlerin Angela Merkel nahezu am selben Tag enden. Jahrelang hatte Kurz die erfahrene Regierungschefin aus dem großen Nachbarland vor sich hergetrieben, es war ein europäisches Duell auf großer Bühne. Kurz forderte in der Flüchtlingspolitik hartnäckig sichere Außengrenzen, Merkel wollte dagegen vor allem eine gerechte Verteilung von Migranten in Europa. Kurz drängte immer wieder auf Härte gegenüber Schuldenstaaten, Merkel setzte jedoch auf großzügige Milliardentransfers."
"taz" (Berlin):
"Kurz hinterlässt einen politischen Scherbenhaufen, der atemberaubend ist. In der Pandemiebekämpfung hat seine Regierung völlig versagt, das Land stolperte planlos in die Herbstwelle. Drei Viertel der Bevölkerung haben jedes Vertrauen in die Regierung verloren. Die politischen Diskurse sind vergiftet. Seine Partei ist völlig zerrüttet und in heller Panik, die Regierungskoalition von ÖVP und Grünen nur mehr zerstritten. All das, während Spitäler und Gesundheitssystem am Rande des Kollapses sind. Die Erleichterung über seinen Abgang stellt sich nicht so rasch her angesichts des kompletten Desasters, das er hinterlässt.
"Handelsblatt" (Düsseldorf):
"Kurz führte die ÖVP klar nach rechts, mit einer harten Migrationspolitik. Seine Coronapolitik war ebenso widersprüchlich wie jene vieler anderer Staaten: Zunächst sorgte er für harte Maßnahmen, bevor er Anfang 2021 auf eine deutlich liberalere Strategie setzte. Dass er im Sommer voreilig das Ende der Pandemie verkündete, wird ihm nun besonders angekreidet. Der Rückzug aus der Politik kommt dennoch überraschend, war doch spekuliert worden, er plane ein Comeback, sobald die Vorwürfe gegen ihn gerichtlich geklärt würden. Offenbar hat er eingesehen, dass dies eher eine Sache von Monaten oder Jahren denn von Wochen ist. Zur Einsicht trugen wohl auch die katastrophalen Umfragewerte seit Oktober bei."
"Abendzeitung" (München):
"Sebastian Kurz ist gescheitert. Verantwortlich dafür ist nicht etwa eine Jagd auf ihn, von der Kurz bei seinem öffentlichen Abschied sprach und dabei als Jäger wohl die unabhängige Justiz und den ihm nicht hörigen (Groß-)Teil der Medien sah. Nein, gescheitert ist Kurz an sich selbst, an seiner Hybris, letztlich auch an seinen Fehleinschätzungen. Zehn Jahre liegen zwischen dem kometenhaften Aufstieg und dem tiefen Fall dieses im In- und Ausland gefeierten politischen Ausnahmetalents. Der Preis für seinen Weg an die Macht und ins Kanzleramt waren ein ganz und gar auf die Person Kurz zugeschnittenes System, ein bedingungslos loyales Netzwerk, eine Teilentmündigung von Bundesländern und Parteibünden, eine Medienpolitik des "Message Control" und ausländerfeindliche Politikinhalte."
"Dolomiten" (Bozen):
"Jetzt muss die Kanzlerpartei in Windeseile die Scherben zusammenkehren. Heute ist Bundesparteivorstand, und was sich gestern zunehmend verdichtete: Karl Nehammer, kantiger Innenminister, wird Parteichef und Kanzler, weil die ÖVP wieder ein Gravitationszentrum braucht. Weitere Umbauten waren offen. Wird dann die ÖVP wieder schwarz, wie sie vor der Kurz-Übernahme war, statt türkis? Nur eines stand gestern fest: Die Ära Kurz ist vorbei."