Rot-Kreuz-Helferin über Katastrophe
Austro-Heldin in Beirut: ''Begegnete so vielen Verletzten''
08.08.2020Noch immer ist nicht klar, wie es zu der Explosion am Hafenareal kommen konnte.
Der Libanon steht nach der Mega-Explosion von vor fünf Tagen vor einer humanitären Katastrophe. Fast dreitausend Tonnen Ammoniumnitrat waren am Dienstagabend in Beirut im Bereich des Hafens in die Luft gegangen. Eine gewaltige Explosion zerstörte fast die Hälfte der Stadt. 300.000 Menschen haben das Dach über dem Kopf verloren, zu den Obdachlosen zählen 80.000 Kinder. Über 150 Menschen sind tot, mindestens 80 Personen werden noch immer vermisst. Von den bisher 5.000 Verletzen schweben 120 in Lebensgefahr.
„Schon vor dieser Tragödie war der Libanon wirtschaftlich gebeutelt. Und auch die Coronakrise hat zu den Problemen beigetragen“, sagt Lisa Taschler, Regionalleiterin des Roten Kreuzes im Libanon. Seit 2017 lebt sie in der Hauptstadt. Die Steirerin erlebte die Beirut-Hölle hautnah. „Solch eine Katastrophe kann ein Land nicht alleine bewältigen. Wir bitten deshalb um Spenden für den Libanon.“ Mehrere Länder haben bereits Hilfe zugesagt, dazu zählen Frankreich, die USA, die Niederlande, Israel und auch Österreich.
Die Abklärung der Ursache läuft auf Hochtouren
Die Wut der libanesischen Bevölkerung ist unterdessen groß. Sie macht die Regierung für die Explosion verantwortlich. Warum die 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen lagerten, wird abgeklärt. Ein Schiff soll die Substanz, die als Düngemittel, aber auch zur Herstellung von Sprengstoff verwendet wird, 2013 nach Beirut gebracht haben. 16 Mitarbeiter des Hafens wurden festgenommen. Andererseits gibt es auch Stimmen im Libanon, welche die einflussreiche schiitische Hisbollah für die Explosion verantwortlich machen. Diese soll die Kontrolle über den Beiruter Hafen haben.
Steirerin im Interview: "Ich begegnete so vielen Verletzten"
Die Österreicherin Lisa Taschler (33) lebt seit 2017 in Beirut und arbeitet als Regionalleiterin des Roten Kreuzes für den Nahen Osten.
ÖSTERREICH: Wie haben Sie die Explosion erlebt?
Lisa Taschler: Ich besuchte Freunde – ungefähr 1,5 Kilometer vom Explosionsherd entfernt. Wir glaubten zuerst an ein Erdbeben. Dann folgte die große Explosion. Alle Fenster zerbarsten, Teile der Decke kamen herunter. Eine Frau neben mir war erstarrt. Ich packte sie am Arm, und wir liefen aus dem Gebäude.
ÖSTERREICH: Was machten Sie danach?
Taschler: Ich wollte nach Hause in meine Wohnung. Dort lebe ich seit Anfang an. Auf dem Weg begegneten mir viele blutende und verletzte Menschen. Ich blieb stehen und versuchte zu helfen. Aber ich hatte selbst keinen Verbandskoffer dabei. Ich weiß noch immer nicht, wie ich das so heil überstanden habe.
ÖSTERREICH: Was wurde aus Ihrer Wohnung?
Taschler: Wir haben dort zu zweit gewohnt. Die Druckwelle hat alles zerstört. Überall liegen Glassplitter. Wir sind nun in einem Hotel untergebracht.
ÖSTERREICH: Wie sieht die Situation derzeit vor Ort aus?
Taschler: Es haben so viele Menschen das Dach über dem Kopf verloren. Der Libanon braucht Hilfe aus dem Ausland. Wir bitten um Spenden für das krisengebeutelte Land. Schon vor der Explosion war der Libanon nahe der Armutsgrenze. Hier leben eineinhalb Millionen Flüchtlinge. Ende des letzten Jahres kam noch die schwere Wirtschaftskrise hinzu, und die Coronakrise hat zu den Problemen beigetragen.
ÖSTERREICH: Wie werden die Verletzten versorgt?
Taschler: Die Spitäler sind überfüllt. Das Rote Kreuz hat zusätzlich zwei Krankenstationen aufgebaut, um Verletzte zu versorgen. Es braucht außerdem dringend Blutspenden.
ÖSTERREICH: Haben Sie überlegt, nach Österreich zurückzukommen?
Taschler: Nein. Ich werde hier in dieser schweren Zeit gebraucht. Ich bleibe. Es ist unglaublich, wie stark die Solidarität hier vor Ort ist. Vor allem junge Menschen helfen freiwillig, die Stadt aufzuräumen und Wohnungen wieder bewohnbar zu machen.
Demos und Schüsse: Libanon am Rande des Bürgerkriegs
Während die Untersuchungen zur Ursache der Mega-Explosion in alle Richtungen laufen, wird die Stimmung im Libanon immer explosiver: Bei Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten wurden in Beirut mindestens 130 Menschen verletzt, am Abend drangen von Ex-Armeeoffizieren angeführte Protestierende in das Außenministerium ein und erklärten es zum „Hauptquartier der Revolution“. Zuvor waren Tausende Menschen durch die Stadt marschiert. Auch das Energie- und das Handelsministerium wurden gestürmt. Schüsse sollen gefallen sein. Tränengas wurde eingesetzt. Schließlich kündigte Regierungschef Hassan Diab vorgezogene Neuwahlen an.
M. Kovacs