Opferzahlen steigen weiter

Beben in Türkei und Syrien: Bereits mehr als 11.700 Tote

08.02.2023

Die Zahl der Todesopfer nach den Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet ist auf mehr als 11.700 gestiegen.

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Gaziantep/Idlib. Zwei Tage nach der Erdbeben-Katastrophe im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien ist die Hoffnung auf weitere Überlebende zunehmend geschwunden. Mehr als 11.700 Leichen wurden bis Mittwochmittag geborgen. Es dürften viele mehr werden, da immer noch zahlreiche Opfer unter den Trümmern Tausender eingestürzter Häuser vermutet wurden. Überlebende harrten die zweite Nacht bei eisigen Temperaturen im Freien aus, während sie erschöpft und verzweifelt auf Hilfe warteten.

Viele schliefen in Autos oder auf den Straßen unter Decken. "Wo sind die Zelte? Wo sind die Lkw mit Lebensmitteln?", schimpfte eine 64-Jährige in der schwer von den Erdstößen getroffenen südtürkischen Stadt Antakya. Rettungsteams habe sie bisher nicht gesehen, auch Lebensmittel würden nicht verteilt. "Wir haben das Erdbeben überlebt, aber wir werden hier vor Hunger oder Kälte sterben."

Erdogan traf in der Provinz Kahramanmaras ein

Präsident Recep Tayyip Erdogan traf in der Provinz Kahramanmaras ein, in der Nähe des Erdbeben-Epizentrums. Allein in der Türkei wurden inzwischen 9.057 Tote gezählt. Mehr als 53.000 Menschen seien verletzt, 6.400 Gebäude zerstört, sagte Erdogan. Umgeben von Journalisten räumte Erdogan ein, dass die Hilfe am ersten Tag nur schleppend angelaufen sei. Es habe Probleme mit Straßen und Flughäfen gegeben. Aber jetzt sei die Lage unter Kontrolle. Er versprach Hilfe für obdachlos geworden Menschen und den Neubau von Häusern innerhalb eines Jahres.

Gleichzeitig rief er dazu auf, nur auf Anweisungen der Behörden zu hören und nicht etwa auf "Provokateure" - was offenbar als Seitenhieb auf die immer lauter werdende Kritik an dem von vielen Türken als zu langsam und völlig unzureichenden empfundenen Hilfseinsatz zu verstehen war. Erdogan befindet sich mitten im Wahlkampf. Er muss um seine Wiederwahl im Mai fürchten.

Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP, warf Präsident Erdogan indes Versagen beim Krisen-Management vor. Der Präsident habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten. Die Türkei ist wegen ihrer geografischen Lage besonders erdbebengefährdet. Vielerorts wird jedoch auch die dürftige Bausubstanz als ein Grund für die vielen eingestürzten Häuser diskutiert.

Lage in Syrien besonders unübersichtlich 

Aus Syrien wurden bisher 2.662 Tote gemeldet. Dort ist die Lage besonders unübersichtlich. Internationale Hilfe lässt sich nur schwer organisieren. Nach fast zwölf Jahren Bürgerkrieg waren in dem Land bereits vor der Katastrophe zahlreiche Straßen und Häuser beschädigt oder zerstört. Von dem Beben betroffen sind sowohl Gebiete, die von der Regierung gehalten werden, als auch von Rebellen. Wie in der Türkei beklagten die Menschen auch hier eine zu langsame Reaktion der Behörden. Bewohner, die in von der Regierung kontrolliertem Gebieten leben, sagten in Telefonaten, dass manche Gegenden mehr Hilfe als andere erhielten.

Hunderttausende Menschen in Syrien mussten nach Regierungsangaben ihre Häuser verlassen. 298.000 Syrer seien betroffen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur SANA unter Berufung auf die Regierung. Das Land habe 180 Notunterkünfte eröffnet. Die staatlichen Angaben beziehen sich in der Regel nur auf die Opfer in den von der Regierung kontrollierten Gebieten. Wie viele Menschen in den von Rebellen gehaltenen Regionen Syriens ihre Häuser verlassen mussten, war noch unklar.

Indes wurde eine beschädigte Straße zwischen der Türkei und Syrien so weit repariert, dass Hilfsgüter befördert werden können. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) könne so die Opfer in Nordsyrien mit Notfallmaterial aus einem Lager in der Türkei versorgen, sagte der WHO-Vertreter in der Türkei. Zudem seien zwei Frachtmaschinen mit WHO-Material startbereit, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Die erste sollte am Donnerstag, die zweite am Freitag in Damaskus eintreffen.

Beben mit einer Stärke von 7,7 bis 7,8

Mit einer Stärke von 7,7 bis 7,8 hatte das Beben in der Nacht auf Montag das Gebiet an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien erschüttert. Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,5 in derselben Region. Tausende Gebäude stürzten ein. Die Bergungsarbeiten sind ein Rennen gegen die Zeit: Die kritische Überlebensgrenze für Verschüttete liegt normalerweise bei 72 Stunden.

Von einem kleinen "Wunder" konnte am Mittwoch ein Krankenhaus im Norden Syriens berichten. Dort war den Angaben zufolge ein Baby in den Trümmern zur Welt gekommen und hat überlebt. Dem kleinen Mädchen gehe es gut, sagte der behandelnde Arzt Hani Maruf im Krankenhaus Afrin. Das Heimatdorf der Familie nahe der türkischen Grenze wurde von den Erdbeben schwer getroffen. Die gesamte Familie des Babys kam bei der Katastrophe ums Leben.

In der Südosttürkei bargen Rettungskräfte eine Frau 52 Stunden nach dem Beben lebend unter den Trümmern. Bilder des Senders NTV zeigten am Mittwoch, wie die Einsatzkräfte in der Provinz Kahramanmaras die Frau auf einer Trage zum Krankenwagen trugen. Sie ist demnach 58 Jahre alt und aus einem eingestürzten Hotel geborgen worden.

Vier Monate altes Mädchen gerettet

Im südtürkischen Hatay wurde nach 58 Stunden unter Trümmern ein vier Monate altes Mädchen gerettet. Die Suche nach den Eltern ging nach Angaben der Nachrichtenagentur DHA indes weiter. In Kahramanmaras wurde ein einjähriges Kind mit seiner schwangeren Mutter nach 56 Stunden lebend unter den Trümmern hervorgeholt. Das Gesicht des Mädchens war weiß vor Staub. Der Vater war schon zuvor lebend gerettet worden.

Der Österreicher Semsettin Sümbültepe (63) befand sich auf Heimatbesuch bei seiner Familie in der Türkei. Am Montag überraschte den Pensionisten das Beben im Haus seiner Mutter in Iskenderun. Wie durch ein Wunder überlebten er und die 84-Jährige in dem Gebäude. Jetzt bangen sie um ihre Verwandten, die noch in den Trümmern liegen. "Wir haben keinen Strom, es ist eiskalt hier", sagte Sümbültepe im Telefongespräch mit der Austria Presse Agentur. "Kälte, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit", so beschrieb er die Lage in seiner Heimatstadt Iskenderun in der Provinz Hatay.

81 Soldaten des Bundesheeres im Hilfseinsatz

Seit Dienstag sind 81 Soldaten und vier Soldatinnen der Katastrophenhilfseinheit Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) im Einsatz in der türkischen Provinz Hatay. Die dicht besiedelte Region ist eines der am stärksten betroffenen Gebiete nach dem verheerenden Erdbeben. "Es gibt nur mehr wenige Gebäude, die nicht zerstört sind. Die Leute schlafen in ihren Autos unter Zeltplanen", berichtete der tv. AFDRU-Leiter Bernhard Lindenberg im Gespräch mit der APA."Die Lage ist schlimmer als erwartet", sagte er. Das Bundesheer werde daher mit offenen Armen empfangen.

Wie das Außenministerium am Dienstag mitgeteilt hatte, wurden zwei Österreicher in der Provinz Kahramanmaras in Anatolien tot geborgen. Weitere Tote oder Vermisste mit österreichischer Staatsbürgerschaft gab es bisher nicht.

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