Tunesien

Begeisterung bei erster freier Wahl

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Zehntausende in Schlangen vor Wahllokalen. EU: Ablauf transparent und friedlich.

Bei den ersten freien Wahlen in Tunesien gibt es offenbar eine rege Beteiligung. Trotz hoher Temperaturen kam es in der Hauptstadt Tunis zu großem Andrang vor den Wahllokalen, berichteten die Sender BBC und Al-Jazeera. Demnach gaben nach der Öffnung der Wahllokale um sieben Uhr früh Zehntausende ihre Stimmen ab. Der Wahlgang lief nach Angaben von EU-Beobachtern transparent und friedlich ab. Zur Gewährleistung eines ruhigen Ablaufs waren laut Regierung rund 40.000 Soldaten und Polizisten im Einsatz. Erste Ergebnisse aus den 27 tunesischen Wahlkreisen sollen bereits am Sonntagabend bekanntgegeben werden. Ein vorläufiges Endergebnis wird für Montag erwartet.

Interims-Regierungschef Beji Caid Essebsi gab im Norden von Tunis seine Stimme ab. Es sei ein "einzigartiger Tag in der Geschichte" und er sei "von nun an ein Ex-Premierminister", sagte Essebsi. Er hatte zuvor angekündigt, abzutreten, sobald die am Sonntag gewählte Nationalversammlung einen Interims-Präsidenten ernannt hat.

Widersprüchliche Berichte
Ein Favorit für hohe Staatsämter nach der Wahl, der Anführer der islamischen Ennahda-Partei Rachid Ghannouchi, konnte zunächst nicht seine Stimme abgeben. Mit seiner Familie am Wahlort eingetroffen, schickte der Interims-Premier sich an, an der Schlange von Menschen vorbei und direkt in die Wahlkabine zu gehen. Die wartende Menschenmenge rief Essebsi allerdings zu sich zurück. "Schlange! Schlange! Hier beginnt die Demokratie", riefen Wartende laut Berichten der Nachrichtenagentur AFP und auf Twitter. Der amtierende Regierungschef soll sich daraufhin lächelnd an seinen Platz in der Schlange rund einen Kilometer vom Eingang des Wahllokals entfernt zurückgezogen haben.

Einer anderen Version zufolge wurde der Politiker vor dem Wahlort lautstark angepöbelt, als er seine Stimme abgab. Die Menschen riefen "Hau ab!" "Du bist ein Terrorist und Mörder!", "Geh zurück nach London!", berichtete die Nachrichtenagentur Reuters. Ghannouchi verbrachte bis zur Revolution in seinem Land 22 Jahre im Londoner Exil. Er reagierte laut dem Bericht nicht auf den Zwischenfall. Bei seiner Stimmabgabe zeigte sich der Politiker zuversichtlich: Dies ist ein historischer Tag", sagte Ghannouchi. "Tunesien ist heute geboren worden, der Arabische Frühling ist heute geboren worden", sagte der Politiker, der von Frau und Tochter - beide nach islamischem Brauch mit Kopftüchern - begleitet wurde. Seiner Partei wird zugetraut, zwischen 20 und 30 Prozent der Stimmen zu gewinnen, eine absolute Mehrheit dürfte sie Vorhersagen zufolge aber verpassen.

"Fest der Demokratie"
Der Gründer der Demokratischen Fortschrittspartei (PDP), Ahmed Nejib Chebbi, nannte die Wahl bei seiner Stimmabgabe ein "Fest der Demokratie", berichtete der Sender Al-Jazeera. "Die Menschen sind hier, um ihre Bürgerpflicht zu erfüllen und zeigen damit, dass sie die Rechte verdient haben, die ihnen über Dekaden verweigert wurden." Die linksliberale PDP wurde bereits unter der Herrschaft Ben Alis begründet und war als eine von wenigen Oppositionskräften unter dem Regimes zugelassen.

Wähler, Parteien und Beobachter priesen am Wahltag den glatten Ablauf des Votums. Im Internet veröffentlichten viele Wähler stolz Bilder von sich mit blau gefärbtem Finger. Die Wahlkommission benutzte schwer abwaschbare blaue Farbe, um Wähler zu kennzeichnen und dadurch Wahlbetrug vorzubeugen. "Es ist eine Freude, so viele Menschen zu sehen! Es lebe Tunesien!", schrieb ein begeisterter Erstwähler auf Twitter. "Mein Vater hat zum ersten Mal abgestimmt. Meine Mutter wartet noch darauf, dranzukommen. Es herrscht eine gute Atmosphäre", berichtete ein anderer Jungwähler. Bis zur Mittagszeit habe es an zwei Orten Berichte über Wahlbetrug gegeben, hieß es von der unabhängigen Wahlkommission, die den Vorwürfen auf den Grund gehen will.

EU zuversichtlich
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich erfreut über die ersten freien Wahlen in Tunesien gezeigt. "Die Europäische Union wird die neue Regierung, auch über die Task-Force 'EU/Tunesien', in ihren Bemühungen um Demokratisierung und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung unterstützen", heißt es in einem Entwurf der Schlussfolgerungen zum EU-Gipfel.

Die Wahl sei ein Sieg für die Freiheit und die Menschenwürde, sagte Manoubia Bouazizi zu Reuters. Ihr Sohn hatte sich im Dezember vergangenen Jahres nach der Zerstörung seines Gemüsestandes durch die Polizei selbst angezündet und damit Demonstrationen ausgelöst, die zur Absetzung des autoritären Präsidenten Ben Ali im Jänner führten. "Heute bin ich glücklich darüber, dass der Tod meines Sohnes uns eine Chance jenseits von Angst und Ungerechtigkeit gegeben hat", sagte Bouazizi. "Ich bin eine Optimistin, ich wünsche mir Erfolg für mein Land."

Geschlechtertrennung
Aufregung gab es in Blogger-Kreisen über nach Geschlechtern getrennte Schlangen vor den Wahllokalen. An mehrere Orten seien Männer und Frauen beim Warten von der Wahlkommission getrennt worden, hieß es auf der Webseite der Zeitung "Guardian". "Zur Wahlstation zu kommen und Männer und Frauen getrennt vorzufinden, wird das Abstimmungsverhalten beeinflussen", kritisierte der tunesische Blogger Slim Amamou. Über Twitter wurden Wähler dazu aufgerufen, die Geschlechtertrennung zu ignorieren. "Männer, stellt euch in die Frauenschlange. Frauen, geht zu den Männern", hieß es zu einem Aufruf.

Mit Spannung wird erwartet, welches politische Lager in der verfassungsgebenden Versammlung die Mehrheit stellen wird. Für die 217 Sitze kandidieren 11.618 Kandidaten. In den Monaten nach der Wahl soll ein neues Grundgesetz ausgearbeitet werden. Spätestens in einem Jahr sind dann Parlaments- und Präsidentschaftswahlen geplant.

Der Ablauf der Wahlen wird auch im Ausland mit großem Interesse verfolgt. Im Jänner hatten die Tunesier als erstes Volk in der Region erfolgreich gegen die autoritäre Herrschaft ihrer Führung rebelliert. Tunesien wird deshalb auch als Mutterland des "arabischen Frühlings" bezeichnet. Der gestürzte Herrscher Ben Ali lebt seit seiner Vertreibung in Saudi-Arabien im Exil.
 

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