Machtwechsel in UK

Briten-Premier Sunak droht historisches Wahldebakel

25.06.2024

Um einiges früher als von vielen erwartet wählt das Vereinigte Königreich am 4. Juli ein neues Unterhaus - und alles deutet auf einen Machtwechsel hin. 

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© Kin Cheung/AP/dpa
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 Nach 14 Jahren konservativer Regierungsführung sprechen die Umfragen seit vielen Monaten eine deutliche Sprache: Die größte Oppositionskraft Labour liegt praktisch durchgehend um die 20 Prozentpunkte vor den Tories. Manche Umfragen sagen der derzeitigen Regierungspartei sogar das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte voraus.

Konservative Politiker verweisen in diesem Wahlkampf immer wieder auf äußere Umstände wie die Corona-Pandemie und die Folgen des Krieges in der Ukraine, wenn sie mit negativen Aspekten ihrer Regierungsbilanz konfrontiert werden. Doch viele in der Bevölkerung scheinen die Verantwortung für die schwierige Lage in der Gesundheitsversorgung, die gestiegenen Lebenshaltungskosten und die oft schlechten Konjunkturnachrichten sehr wohl auch den Tories selbst anzulasten.

Labour klar vorne

Dass die Zahl der irregulären Ankünfte mit kleinen Booten über den Ärmelkanal in die Höhe geht, obwohl Premierminister Rishi Sunak ein hartes Vorgehen in der Migrationspolitik angekündigt hatte und mit dem Ruanda-Abschiebeplan für Abschreckung sorgen wollte, erweist sich im Wahlkampf ebenfalls als nicht gerade hilfreich - ebenso wenig wie die insgesamt höheren Zuwanderungszahlen seit dem Brexit, die viele Befürworter des britischen EU-Austritts eigentlich gesenkt haben wollten. Trotz eines jüngsten Rückgangs ist der Wanderungssaldo laut BBC mehr als drei Mal so hoch wie zum Zeitpunkt der Parlamentswahl 2019, als die Konservativen in ihrem Wahlprogramm versprachen, die Gesamtzahlen zu senken.

Anders als bei der Wahl 2019, die als "Brexit-Wahl" in die Geschichte eingehen dürfte, sticht diesmal keine einzelne Thematik als zentral im Wahlkampf hervor. In TV-Konfrontationen und -Fragestunden mit den Spitzenkandidaten sind bisher die Lage im Gesundheitssystem NHS, die hohen Lebenshaltungskosten und damit verbundene Armut auch unter Kindern, die Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt, die künftige Steuerpolitik und ihre möglichen Folgen sowie die Glaubwürdigkeit von Politikern häufig aufgeworfene Themen.

Während Premierminister Sunak die Wähler dazu aufruft, ihn nach seiner bisherigen Regierungszeit von am Dienstag genau 20 Monaten zu beurteilen und in die Zukunft statt in die - speziell unter seinen unmittelbaren Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss - mitunter turbulente Vergangenheit unter konservativer Führung zu blicken, unterstreicht Labour-Herausforderer Keir Starmer, dass es nach 14 Jahren Tory-Regierung Zeit für einen Wandel sei. Entsprechend steht der Wahlkampf der Sozialdemokraten auch unter dem Motto "Change".

Brexit kein Thema mehr

Der Brexit ist anders als vor fünf Jahren in der Wahlauseinandersetzung diesmal kaum Thema und kommt auch in den Wahlprogrammen ("manifestos") der beiden größten Parteien selten vor. Wie der "Guardian" ermittelt hat, wird das Wort "Brexit" im aktuellen Programm der Konservativen nur zwölf Mal genannt, 2019 kam es ganze 61 Mal vor. Labour erwähnt "Brexit" demnach überhaupt nur einmal - im Wahlprogramm vor fünf Jahren waren es 21 Mal gewesen. Sunak hatte vor dem britischen EU-Referendum 2016 für den Austritt geworben und lobt ihn weiterhin, Starmer war ein Gegner des Brexit, tritt allerdings nicht für einen Wiedereintritt in die EU ein, sondern für eine verbesserte Zusammenarbeit.

Kurz vor dem achten Jahrestag des Votums vorige Woche schrieben die Tories auf X, dass das Land "entschieden für den Brexit gestimmt" und die Partei ihn auch "geliefert" habe. Ob sich damit aktuell allerdings viele Wählerstimmen gewinnen lassen, scheint fraglich: In einer Befragung des Meinungsforschungsinstitutes YouGov von Mitte Juni geben lediglich 15 Prozent an, dass die positiven Folgen des EU-Austritts ihrer Ansicht nach die negativen bisher überwiegen.

Aktuelle Umfragen sagen den Konservativen eine geradezu desaströse Niederlage bei der Wahl voraus. Sie liegen im Moment bei etwa 20 Prozent und damit weiter deutlich hinter Labour mit 41 Prozent. Der rechtspopulistischen Partei "Reform UK" unter Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage werden 17 Prozent prognostiziert, den Liberaldemokraten unter Ed Davey elf Prozent. Die Grünen landen mit sechs Prozent auf dem fünften Platz.

Gerade in einem Wahlsystem wie dem britischen, wo in den 650 Wahlkreisen jeweils die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen zum Zug kommt, die anderen Stimmen jedoch verfallen, ist allerdings schwer vorherzusagen, wie sich die Prozentzahlen auf Sitze und damit die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse umlegen lassen. Meinungsforscher gehen derzeit davon aus, dass Labour auf eine Rekordzahl an Sitzen kommen könnte, während die Konservativen, die 2019 mit 365 Sitzen einen Erdrutschsieg eingefahren hatten, auf rund 100 Mandate abstürzen könnten.

Zahlreiche Sitze verlieren könnte nach einer Affäre um die Parteifinanzen und Führungskrisen auch die seit Jahren in Schottland regierende Schottische Nationalpartei (SNP) unter dem erst Anfang Mai angetretenen Partei- und Regierungschef John Swinney. Von einer Schwächung der SNP dürfte laut Experten vor allem Labour profitieren.

Ein Polit-Veteran, der den Wahlkampf zuletzt gehörig aufgemischt hat, könnte es diesmal laut Meinungsforschern erstmals ebenfalls ins House of Commons schaffen: Nigel Farage, der in der Vergangenheit Tory-Mitglied war und später für UKIP und die Brexit Party Politik gemacht hat, hat bereits sieben Mal erfolglos für das britische Unterhaus kandidiert und tritt nun als Vorsitzender von "Reform UK" im Wahlkreis Clacton-on-Sea in Essex an. Noch vor wenigen Monaten hatte der frühere langjährige Europaparlamentarier eine Kandidatur ausgeschlossen und laut Medienberichten die US-Wahl als wichtiger als die britische bezeichnet.

Mittlerweile sorgen die hohen Umfragewerte von "Reform UK", dessen Führung Farage erst im Juni übernommen hat, für beträchtliche Unruhe bei den Konservativen. Ex-Premierministerin Theresa May, die seit 1997 Tory-Abgeordnete war und sich im Juli nicht mehr zur Wahl stellt, unterstrich am Samstag bei einem Auftritt beim Europa-Forum Wachau in Göttweig, dass Farage "kein Konservativer" sei. Wer an die Werte der Konservativen Partei glaube, solle nicht versucht sein, seine Partei zu wählen. In einzelnen Umfragen lag "Reform UK" in den vergangenen Wochen sogar vor den Tories. Dass die Rechtspopulisten die Konservativen als offizielle Opposition im Land ablösen könnten, halten Experten allerdings aufgrund der Beschaffenheit des britischen Wahlsystems nicht für realistisch.

(Von Alexandra Angell/APA)

(Redaktionelle Hinweise: GRAFIKEN 0845-24, 88 x 72 mm, 0846-24, 88 x 63 mm)

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