Lange Zeit hat die Türkei weggesehen, warum greift sie gerade jetzt ein?
Was steht hinter dem Entschluss Erdogans, nun in Syrien einen "Kampf gegen den IS" zu führen? Seit wenigen Tagen attackieren türkische Truppen in ihrer Offensive "Schutzschild Euphrat" IS-Stellungen.
Der "Focus" hat aufgelistet, warum gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Eingreifen gekommen war und was wirklich hinter "Schutzschild Euphrat" steckt.
Warum gerade jetzt?
"In der Türkei steigt die Sorge vor der Bedrohung durch den IS, insbesondere nach den Anschlägen auf dem Atatürk-Flughafen und jüngst in Gaziantep", erklärte Kristian Brakel, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Israel laut dem "Focus".
Somit sei die Offensive einerseits eine Reaktion auf diese Anschläge. Doch es stecke noch viel mehr dahinter.
1. Die Kurden stoppen
Einer der wichtigsten Punkte für Erdogan ist es, die kurdischen Autonomiebestrebungen zu unterbinden, da der Kampf mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei in der Türkei schon längst wieder entflammt ist.
Der Westen und Osten Nordsyriens wird größtenteils durch die kurdische YPG kontrolliert, sie spielt eine große Rolle im Kampf gegen den IS. Nur ein kleines Gebiet zwischen den Kurden-Gebieten wird vom IS kontrolliert. Dort drang nun auch die türkische Armee ein.
Der Plan dahinter sieht laut "Focus" folgendermaßen aus: Sobald der IS aus diesem Gebiet vertrieben wurde, kann den "rasch expandierenden kurdischen Kräften ein Riegel vorgeschoben werden, um einen Zusammenschluss der westlichen und östlichen Autonomiegebiete zu verhindern."
Durch einen kurdischen Korridor in Nordsyrien, der der PKK einen Rückzug ermöglichen würde, sei die Sicherheit und territoriale Integrität der Türkei gefährdet, erklärte Türkei-Experte Yasar Aydin laut dem Nachrichtenportal.
2. Machtdemonstration
Neben der Verdrängung der Kurden ist die Operation jedoch auch eine Machtdemonstration: "Nach dem gescheiterten Putschversuch ist die Unterstützung für Erdogan sehr groß", sagte Brakel. Aus diesem Grund könne er nun zeigen, dass er die Armee auch nach dem Putschversuch noch unter Kontrolle habe und sie trotz seiner Massenentlassungen noch funktionstauglich sei.
"Der Zeitpunkt ist auch deshalb günstig, weil sich die Armeeführung lange gegen Pläne gesträubt hat - und sich die Verweigerungsposition nun schlicht nicht mehr leisten kann", schilderte Brakel weiter. Der Türkei gehe es nun darum, sich wieder einen Einfluss auf die militärischen Geschehnisse in Syrien zu sichern.
3. Annäherung an Russland
Auch die türkische Syrienpolitik wurde durch "Schutzschild Euphrat" neu justiert: "Es wirkt so, als sei der Sturz des Regimes nicht mehr die erste Priorität", so Brakel. Aus diesem Grund sei es nun möglich, das Verhältnis mit Russland aufzubessern.
Während die Türkei zuvor Assad stürzen wollte, wollte Russland den Diktator halten. Nun hat Erdogan von diesem Ziel Abstand genommen und die Annäherungsbemühungen zu Putin zeigten Wirkung.
4. USA als Bündnispartner
Doch trotz des besseren Verhältnisses zu Russland sei die Türkei weiterhin auf die USA als Bündnispartner angewiesen. Auch hier könnte der Strategiewechsel von Vorteil sein: "Für die USA kommt die türkische Offensive nicht ungelegen, das zeigt sich auch in der geleisteten Luftunterstützung", erklärte Brakel laut "Focus".
Das Vertrauen der US-amerikanischen Führung, dass die Kurden ihr Versprechen halten, das eroberte Territorium nicht dauerhaft zu beanspruchen, sei eher gering. Im Streben, die Terrormiliz zurückzudrängen, würden die Kurden jedoch als Verhandlungsmasse dienen, die von den USA instrumentalisiert werde.
5. Friedensoption
Zuletzt könnte das Eingreifen der Türkei nun auch als Schlüssel für den Frieden zwischen Ankara und den syrischen Kurden sein. Schon öfter wurde überlegt, "ob eine Duldung der YPG nicht möglich wäre", so Brakel. Nach der Eskalation mit der PKK seien diese Überlegungen jedoch verdrängt worden.
"Das ureigenste Interesse der Türkei ist, für Ruhe und Stabilität im Land zu sorgen - da würde es helfen, die Front mit den Kurden in Nordsyrien zu schließen", wird Brakel zitiert. Es sei zwar ein langer Weg, der jedoch gelingen könnte, "vor allem, wenn die USA Druck ausüben."