Sunniten begehren auf - Bürgerkrieg in Syrien bestärkt sie.
Ein Jahr nach dem Abzug der US-Truppen aus dem Irak brennt es wieder an allen Ecken des Landes. In der zunehmenden Hitze der Auseinandersetzungen zwischen Volks- und Religionsgruppen kochen Extremisten ihr eigenes Süppchen, und der Bürgerkrieg im benachbarten Syrien facht wie ein Katalysator das Feuer an. Noch können der schiitische Ministerpräsident Nuri al-Maliki und die moderaten politischen Führer der Sunniten und Kurden den Druck im Kessel kontrollieren. Doch er könnte ihnen schnell um die Ohren fliegen:
Im Norden fordern die Kurden immer selbstbewusster ihren Anteil am Ölreichtum des Landes. Sie ignorieren den Anspruch der Zentralregierung, allein das gesamte Ölgeschäft zu kontrollieren und verkaufen das Schwarze Gold aus ihrem Autonomiegebiet auf eigene Rechnung. Im Westen begehren die Sunniten gegen die Mehrheit der Schiiten auf. Die unter dem früheren Diktator Saddam Hussein dominierende Minderheit fühlt sich heute an den Rand gedrängt und trumpft seit Dezember mit zahlreichen Protestaktionen immer lauter auf. Die schon bestehenden Spannungen werden von Radikalen auf allen Seiten geschürt, deren Forderungen bis zu Abspaltung der jeweiligen Gebiete geht. Extremisten aus dem Umfeld der Al-Kaida haben allein in den vergangenen Tagen mit zahlreichen Anschlägen Dutzende Menschen getötet und die Gräben zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden noch weiter aufgerissen.
Besonders im Westen des Landes, dem Gouvernement Anbar, brodelt es. Sunniten errichten Protestcamps, blockieren Fernstraßen und liefern sich Auseinandersetzungen mit der Armee. Geistliche und Stammesführer fordern in scharfen Reden Reformen, den Sturz der Zentralregierung und sogar die Abspaltung einer sunnitischen Region in der Provinz, die an Saudi-Arabien, Jordanien und Syrien grenzt. "Das ist eine Eskalation nach Jahren der Ungerechtigkeit gegen uns", sagte Munim al-Mindil, der sich an einem Protestcamp beteiligte. "Das musste so kommen. Der ganze Druck führt letztlich zu einer Explosion."
"Wenn sie uns noch länger ignorieren, haben wir keine andere Möglichkeit, als eine neue Regierung zu fordern", sagte Scheich Hamid al-Shuk, ein Stammesführer aus Anbar. Der gegenwärtigen Regierung wirft er vor, sie wolle die sunnitische Identität auslöschen.
Viele Stammesführer und Abgeordnete sind besorgt, dass radikale Geistliche und Islamisten das Kommando übernehmen könnten. Zu den treibenden Kräften gehört dabei die Islamische Partei Iraks, ein Ableger der Muslimbrüder, die sich für eine sunnitische Provinz an der Grenze zu Syrien starkmacht und diese falls nötig auch mit Gewalt durchsetzen will. Zahlreiche Selbstmordanschläge in den vergangenen Tagen, auch gegen moderate Sunniten, lassen keinen Zweifel an der Entschlossenheit der Extremisten. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen moderaten Sunniten, Stammesfürsten und Extremisten machen die Lage noch unberechenbarer. "Wir haben einen Zustand extremer Unsicherheit, sogar für irakische Verhältnisse", sagt der Experte Ramsi Mardini von dem in Beirut ansässigen Institut für strategische Irakstudien. Er sieht darin die große Gefahr von Fehleinschätzungen und Überreaktionen.
Dazu trägt auch der Bürgerkrieg in Syrien bei. Auf Seiten der Rebellen sind Sunniten die treibende Kraft. Islamisten spielen eine immer stärkere Rolle. Sollte Syriens Präsident Bashar al-Assad stürzen, wäre dies eine deutliche Schwächung der Schiiten in der Region, einschließlich des Iran, der auch die schiitischen Parteien im Irak unterstützt.
Diese sehen die Entwicklung mit großer Sorge: "Unsere größte Furcht ist, dass das Regime in Syrien zusammenbricht", sagte ein ranghoher schiitischer Politiker im Irak. "Dann wird am nächsten Tag eine sunnitische Region im Irak ausgerufen und der Kampf bricht aus."