Minen-Drama von Chile
Die Wahrheit aus der Grube
17.10.2010
Nach der Wunderrettung redet der erste Kumpel über die Höllenqualen.
Es geschah ohne Vorwarnung. Die 33 Bergarbeiter in der San José-Goldmine hatten am 5. August in 620 Meter Tiefe unter der nordchilenischen Atacamawüste gerade ihr Mittagessen zubereitet. Plötzlich rumpelt es, die Decke gibt nach, der einzige Fluchweg ist binnen Sekunden von 700.000 Tonnen Geröll versperrt. Die Männer laufen panisch durch das Inferno. Als sich Staub setzt, scheint klar: Ihre Überlebenschancen sind praktisch null.
„Wir warteten auf den Tod“, erzählt Richard Villarroel (23). Er ist der erste der 33 Kumpel, der nach der spektakulären Befreiungsaktion jetzt die ganze Wahrheit über die 69 Tage in der Tiefe auspackt: „Unsere Körper zehrten sich selbst auf, wir waren so dünn, ich verlor 13 Kilo, hatte solche Angst, dass ich mein Baby, das am Weg war, nicht mehr sehen werde“, beschreibt er gegenüber der Washington Post die Torturen der ersten 17 Tage. Als an der Oberfläche niemand wusste, dass die Männer am Leben sind – und die unten alle Hoffnung schon aufgaben.
Halber Löffel Thunfisch, Wasser war ölverseucht
Es sind Szenen aus der Hölle: In ständiger Düsterheit wissen die Kumpel nicht mehr, wann es Tag und Nacht ist. Dazu die schwüle Hitze: 33 Grad. Keine Toiletten. Der Hunger treibt sie an den Rand des Wahnsinns. Nahrung für nur 48 Stunden ist im Notraum gelagert: Mit einer Tagesration von einem halben Löffel Thunfisch hält der Vorrat weit länger. Das Wasser schmeckt nach Öl.
Es gibt Faustkämpfe. Schichtleiter Luis Urúza (54) gelingt das Unmögliche: Er setzt strikt die Essensrationen durch, erteilt Arbeitsaufgaben, löst Probleme durch demokratische Abstimmungen. Villarroel: „Jeder hatte einen Job, ich kümmerte mich um die Elektrik.“
Dunkle Kannibalismus-Visionen
Doch einige sind derart von ihrem bevorstehenden Tod überzeugt, „dass sie sich in ihre Liegen verkrochen – und einfach nicht mehr aufstanden“, so der Kumpel. Der Heißhunger löst dunkle Visionen über Kannibalismus aus: „Niemand sprach es aus, erst als wir entdeckt wurden, scherzten wir über unsere dunklen Gedanken.“
Nach 17 Tagen findet eine Sondierungsbohrung die Kumpel: „Wir hörten Bohrgeräusche schon zuvor, doch die waren stets so weit weg, dass wir alle Hoffnung fahren ließen.“ Doch dann der 21. August, 6:30 Uhr. Villarroel spielt gerade Domino, als er wieder das Bohrgeräusch hört: „Diesmal kam es immer näher, dann brach der Bohrer durch die Decke.“ Kumpel umarmten vor Freude den Bohrkopf. Die Gruppe singt die Nationalhymne. Das Loch wurde für die nächsten acht Wochen zur „Lebensader“ – bis zur Auffahrt in der Rettungskapsel.