Forscher räumen auf
Die Wahrheit über Merkel und die Flüchtlinge
18.09.2021Bis heute werfen Kritiker der Kanzlerin vor, Flüchtende geradezu nach Deutschland eingeladen zu haben. Zwei Migrationsforscher widerlegen diese These nun in einer neuen Studie.
Jasper Tjaden, ein Migrationsforscher von der Universität Potsdam und Tobias Heidland vom Kieler Wirtschaftsinstitut gehen der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin aus dem Jahr 2015 auf sie Spur und kommen zu folgendem Ergebnis: In den folgenden Jahren kam es entgegen vieler Befürchtungen nicht zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen. Im Interview erzählt Tjaden, welche Auswirkungen die Willkommens-Politik tatsächlich hatte.
In einem Interview mit dem FOCUS Online, wurden Herrn Tjaden folgende Fragen gestellt: Herr Tjaden, Ihre Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Angela Merkels Willkommens-Politik im Jahr 2015 keine große Flüchtlingswelle ausgelöst hat. Wie genau kamen Sie zu diesem Resultat?
Jasper Tjaden: Wir haben uns unterschiedliche Datenquellen angesehen. Darunter waren beispielsweise Einwanderungszahlen und Asylanträge. Aber wir haben uns auch mit potenzieller Einwanderung beschäftigt. Wir haben also zum Beispiel mittels Umfragen unter Menschen aus den Fluchtregionen nachgeforscht, wer gerne nach Deutschland auswandern würde. Zusätzlich haben wir anhand von Google-Suchen in den jeweiligen Ländern untersucht, wie sich das Interesse an Deutschland im Kontext von Migration über die Zeit verändert hat. All diese Quellen wurden dann dahingehend untersucht, wie sich die Lage vor und nach 2015 darstellte.
Wenn Merkel durch ihre Politik für eine große Flüchtlingsbewegung gesorgt hätte, hätten die Zahlen nach 2015 ansteigen müssen. Das ist aber nicht geschehen. Die Daten zeigen, dass die Flüchtlingszahlen nach 2015 rapide abnahmen. Der eigentliche Anstieg passierte bereits Jahre vorher. Um genauer zu sein, in den Jahren 2012 und 2013. Deutschland bekam diese Auswirkungen erst verzögert, nämlich zwei Jahre später, zu spüren. Merkels Entscheidung, im September 2015 die Grenzen offen zu lassen, wurde erst am Höhepunkt der Fluchtbewegung getroffen und hat zu keinem weiteren Pull-Effekt geführt.
Welche Gründe sorgten für den Flüchtlingsstrom vor 2015?
Tjaden: Insbesondere der Konflikt in Syrien, der zu dem Zeitpunkt besonders intensiv war, führte zu hohen Flüchtlingszahlen. Aber auch die schlechte Situation in den Flüchtlingslagern in der Region spielte eine zentrale Rolle. Wir wissen aus Presseberichten von Flüchtlingsorganisationen, dass schon 2011, 2012, und 2013 das Geld für die Grundversorgung von Flüchtlingen knapp wurde. Die Not zwang viele Menschen dann weiterzuziehen. Ab diesem Moment begannen auch die Flüchtlingszahlen hierzulande anzusteigen.
Hatten Merkels Aussagen und ihre Politik dann überhaupt Auswirkungen auf die Flüchtenden?
Tjaden: Nach unserer Einschätzung gab es keine Auswirkungen in den Folgejahren. Viele Leute sprechen oft vom sogenannten Pull-Effekt. Die Idee dahinter ist, dass die Politiker Entscheidungen treffen oder Aussagen tätigen, und die Flüchtenden daraufhin ihre Koffer packen und einfach losziehen. Wenn es diesen Effekt gab, dann war der höchstens sehr kurzfristig und regional stark eingegrenzt.
Die meisten Flüchtlinge erfahren überhaupt nicht, was sich in den westlichen Medien abspielt oder Politiker sagen. Viele von ihnen haben auch gar nicht das Geld, die Reise nach Europa anzutreten. Gleichzeitig haben die politischen Maßnahmen, die nach 2015 beschlossen wurden, die Flüchtlingszahlen stark begrenzt. Dass Merkels Selfie oder ein Willkommensgruß eine größere Fluchtwelle auslöst, ist unserer Ansicht nach übertrieben.
Werfen wir einen Blick auf die Lage in Afghanistan. Auch hier wird nun viel über mögliche Flüchtlingsströme diskutiert. Lassen sich die Studienerkenntnisse auch auf die aktuellen Vorkommnisse übertragen?
Tjaden: Die generelle Botschaft der Studie ist, dass einzelne Willkommenspolitiken nicht zwangsläufig zu mehr Zuwanderung führen. Genau das war damals die Angst. Ich bin kein Afghanistan-Experte, aber die Situation dort scheint nicht direkt vergleichbar mit 2015 zu sein. Der Grenzschutz wurde seitdem deutlich erhöht; es ist immer schwieriger geworden, nach Europa zu gelangen. Die EU hat deutlich gemacht, dass sie eine Situation wie 2015 unter allen Umständen verhindern will.
Ich gehe also nicht davon aus, dass eine ähnliche Flüchtlingsbewegung eintreten wird. Wenn irgend möglich, werden die Afghanen nach Pakistan und in den Iran fliehen, wo es jetzt schon mehrere Millionen Flüchtlinge gibt. Die EU-Länder werden finanzielle Unterstützung bereitstellen, um Flüchtlinge in der Region angemessen zu versorgen. Sicherlich werden auch die Zahlen nach Europa zunehmen, aber nicht in einem ähnlichen Ausmaß wie damals.