Bei den Kommunalwahlen in der Türkei am Sonntag verfolgt Präsident Recep Tayyip Erdogan ein klares Ziel: Der Staatschef will mit seiner Regierungspartei AKP die seit fünf Jahren von der Opposition regierte Bosporus-Metropole Istanbul zurückerobern.
Doch die kurdische Minderheit könnte mit einer taktischen Stimmabgabe Erdogan einen Strich durch die Rechnung machen.
Die Kurden könnten nach Einschätzung von Experten das Zünglein an der Waage werden. Denn viele Anhänger der pro-kurdischen DEM-Partei dürften für Erdogans Rivalen in Istanbul stimmen, den amtierenden Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu von der größten Oppositionspartei CHP. Umfragen deuten auf ein enges Rennen hin.
Der Erfolg der Opposition bei den Kommunalwahlen 2019 wäre ohne kurdische Unterstützung nicht möglich gewesen. Die DEM - die Nachfolgepartei der HDP - trat damals in den großen Städten nicht mit eigenen Kandidaten an. Stattdessen rief sie ihre rund sechs Millionen Anhänger auf, ihre Stimme dem Oppositionsbündnis zu geben.
Kurden stehen vor Dilemma
Bei den diesjährigen Kommunalwahlen stehen die Kurden allerdings vor einem Dilemma. Die DEM schickt zwar in Istanbul ihre eigene Kandidatin Meral Danis Bestas ins Rennen. Sie liegt aber in Umfragen weit abgeschlagen. Viele kurdischen Wähler seien daher noch hin und her gerissen und unentschlossen, sagt Yüksel Genc vom Meinungsforschungsinstitut Samer. 40 Prozent der DEM-Anhänger hätten angegeben, dass sie für Imamoglu votieren würden. "Sie erwägen, für ihren Parteikandidaten zu stimmen, wollen aber nicht, dass die AKP gewinnt". Denn Erdogans Regierung geht seit dem Scheitern des Friedensprozesses zur Beendigung des jahrzehntelangen Aufstands der verbotenen PKK 2015 hart gegen kurdische Parteien vor.
Roj Girasun, Direktor der Denkfabrik Rawest Research, führt an, dass sich die DEM und die CHP in einigen Teilen Istanbuls geeinigt hätten, so dass es für die DEM-Wähler einfacher sei, Imamoglu zu unterstützen. Etwa die Hälfte von ihnen neige zur Wahl Imamoglus. Erdogan, der zwischen 1994 und 1998 Bürgermeister von Istanbul war, bezeichnete dies als "schmutziges Geschäft", mit dem Spannungen zwischen den Parteien geschürt werden sollten.
Die Istanbuler DEM-Spitzenkandidatin Bestas wies die Idee einer taktischen Stimmabgabe jedoch zurück. "Wir rufen die Menschen auf, für uns zu stimmen", sagte sie kürzlich in einem Interview. Anzeichen für eine Rückkehr zum Friedensprozess gebe es derzeit nicht, aber die Demokratisierung erfordere eine Lösung der kurdischen Frage. "Eine Türkei, in der ein Viertel der Bevölkerung ausgegrenzt und diskriminiert wird und deren Forderungen nicht erfüllt werden, kann nicht demokratisch sein", so Bestas. Die Kurden machen etwa 15 bis 20 Prozent der 85 Millionen Einwohner der Türkei aus.
Für die geplante Rückeroberung Istanbuls schickt Erdogan Murat Kurum als Bürgermeisterkandidaten ins Rennen, der 2023 als Minister für Umwelt, Stadtplanung und Klimawandel agierte. Nach dem verheerenden Erdbeben im Februar vergangenen Jahres machte sich der 47-jährige Bauingenieur einen Namen durch seinen Einsatz bei der Schaffung von Notunterkünften.
Bei den Kommunalwahlen werden Stadträte, Provinzräte und Bürgermeister gewählt. Die Wahlen sind auch ein Stimmungstest für Erdogan, der seit 2014 im Amt ist. Dieser hatte im Mai 2023 die Stichwahlen um die Präsidentschaft in der Türkei für sich entschieden. Große Teile der Bevölkerung und die Opposition waren damals jedoch enttäuscht, da sie auf einen Machtwechsel gesetzt hatten. Ernüchterung und Zermürbung machten sich daraufhin in dem überwiegend muslimischen Land breit, auch angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise.
Bei den Kommunalwahlen 2019 musste die AKP neben Istanbul auch die Rathäuser in Großstädten wie Ankara und Antalya abgeben. Die Bosporus-Metropole hat für Erdogan allerdings eine besondere Bedeutung. Er startete dort seine politische Karriere als Oberbürgermeister. In Istanbul wohnen rund 16 Millionen Menschen und damit etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung der Türkei. Außerdem wird in der Stadt ein großer Teil des türkischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet.
Die Verbraucher in der Türkei leiden unter einer Wirtschaftskrise, die mit einer galoppierenden Inflation von zuletzt mehr als 67 Prozent einhergeht. Die langjährige Talfahrt der Landeswährung Lira ist ein Grund dafür, da sich importierte Waren verteuern. Für die Zeit nach der Kommunalwahl wird mit einer restriktiveren Finanzpolitik gerechnet, die viele Türken wirtschaftlich treffen dürfte.
Für Erdogan bietet sich jetzt eine Chance für die Rückeroberung der Metropole, die bis zu der vorherigen Kommunalwahl 25 Jahre von seiner AKP regiert wurde. Die Opposition ist zerrüttet und hat sich nicht von der verlorenen Präsidentschafts- und Parlamentswahl im vergangenen Jahr erholt. Im Jahr 2019 war Imamoglu noch von der kurdischen HDP und der IYI-Partei unterstützt worden, um die AKP in Istanbul zu stürzen. Bei diesen Wahlen treten die drei großen Oppositionsparteien jedoch nicht mit einer gemeinsamen Plattform an, sondern mit ihren eigenen Kandidaten.
Jüngsten Umfragen zufolge zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Imamoglu und seinem Herausforderer Kurum ab. Für Imamoglu geht es bei der Wahl auch um höhere Ziele. Bei einem Sieg kann er auf eine Präsidentschaftskandidatur 2028 hoffen. Allerdings hat Imamoglu derzeit Ärger mit den Justizbehörden. Ein Gericht verurteilte ihn 2022 wegen Beleidigung von Mitgliedern der staatlichen Wahlkommission zu einer Haftstrafe. Der Fall wird nun in der nächsten Instanz verhandelt. Imamoglu droht allerdings ein politisches Betätigungsverbot, wenn das Urteil rechtskräftig werden sollte.