Live aus Japan
Ganz Japan im Ausnahmezustand
11.03.2011500 Österreicher in Japan. Viele wollen weg. Angst vor dem GAU.
500 Österreicher sind von der Katastrophe betroffen: "Niemand wurde verletzt." Aber: Zu rund 20 Österreichern in der Region Sendai fehlt der Kontakt.
Aufatmen in der Österreicher-Community in Japan: "Soweit wir das derzeit abschätzen können", sagt Martin Glatz, österreichischer Handelsdelegierter in Tokio, "wurden bei Beben und Tsunami keine Österreicher verletzt." Trotzdem herrsche Angst und Sorge, "zumal sich die Lage im Kernreaktor Fukushima sehr zugespitzt hat".
Ständiger Kontakt mit Botschaft und Ministerium
Rund 100 Österreicher haben sich zum Zeitpunkt des Monsterbebens in der Region um die am schlimmsten betroffene Stadt Sendai aufgehalten: "Mit 80 von ihnen haben wir bereits telefoniert", sagt Michael Haider, Geschäftsträger an der österreichischen Botschaft in Tokio: "Sie sind wohlauf, es geht ihnen den Umständen entsprechend gut." Zu rund 20 Personen fehlt derzeit allerdings der Kontakt: "Das bedeutet aber nicht, dass sie als vermisst gelten", argumentiert Haider: "Die Telefonverbindungen sind nicht perfekt, wir wissen auch von vielen Landsleuten nicht, ob sie zur Zeit des Bebens überhaupt in der Region waren."
Angst vor Atom-Crash: Kulturmanagerin will weg
Die meisten Österreicher halten sich derzeit in der Region um Tokio auf. Viele wollen aus Angst vor einer Katastrophe im Atomkraftwerk 250 km nördlich von Tokio weg. Wie Thetis Yoshitake-Kedl, eine 29-jährige Burgenländerin. Sie arbeitet als Kulturmanagerin in Tokio, lebt seit vier Jahren in Japan, hat 2009 ihren japanischen Mann geheiratet, den Sänger Daichi Yoshitake. Im Vorjahr wurde das gemeinsame Kind Taikai geboren. Die Burgenländerin will nichts als weg: "Ich möchte, dass mein Baby in Sicherheit ist", sagt sie zu ÖSTERREICH (siehe Interview unten).
Auch Judoka will aus Katastrophengebiet weg
Auch Judoka Ludwig Paischer bricht sein Trainingslager in Japan ab. Paischer, der das Horrorbeben in einem Hotel in Tokio erlebt hat, reist heute mit seinem Physiotherapeuten Othmar Haag nach Österreich zurück: "Die Lage ist nach dem Atomunfall doch zu unsicher", sagt er.
Krisenstab in Wien dachte über Evakuierung nach
Nach Beben und Kraftwerk-Katastrophe trat im Außenministerium in Wien der Krisenstab zusammen. Eine Notfalls-Hotline (0591339500) wurde eingerichtet. Kurz wurde sogar über eine Evakuierung nachgedacht.
Burgenländerin Thetis Yoshitake-Kedl
© privat
ÖSTERREICH: Frau Kedl, wie gehen Sie mit der drohenden Gefahr um?
Thetis Yoshitake-Kedl: Ich habe vor allem Angst um mein Baby. Die Japaner, auch die Familie meines Mannes, verstehen meine Befürchtungen nicht. Die Gefahr einer atomaren Verseuchung und deren Folgen verdrängen sie. Sie behaupten, die Regierung hätte alles unter Kontrolle. Die Japaner wissen, wie sie sich bei Erdbeben und Tsunamis verhalten sollen, nicht aber wenn ein GAU droht. Atomkraftwerke sind hier ein Tabuthema.
ÖSTERREICH: Was haben Sie jetzt vor?
Yoshitake-Kedl: Ich habe uns erst einmal sofort Jod-Tabletten organisiert, die uns vor leichter Verstrahlung schützen sollen. Parallel dazu organisiere ich die Ausreise für mein Baby und mich. In dieser aktuell kritischen Phase möchte ich von hier so rasch wie möglich weg. Wenn das Kraftwerk explodiert, ist es ja schon zu spät. Wer weiß, ob man dann überhaupt noch zum Flughafen kommt, wenn Panik entsteht.
ÖSTERREICH: Und Ihr Mann bleibt?
Yoshitake-Kedl: Ja, aber er ist nicht böse darüber, dass ich unseren Sohn ins sichere Österreich bringe.
Seiji Ozawa: Ex-Musikchef der Staatsoper
© ChinaFotoPress/Getty Images
ÖSTERREICH: Sie erlebten das Erdbeben in der Nähe von Tokio …
Seiji Ozawa: Ich muss nach meiner Krebserkrankung und einer Operation an der Wirbelsäule jeden Morgen mit meinem Trainer in ein Schwimmbad außerhalb der Stadt. Danach hatte ich an diesem Tag ganz in der Nähe ein Meeting. Ich hielt gerade eine Rede – und da passierte es: Die Erde bebte, erst einmal, dann ein zweites Mal. Wir mussten aus dem Gebäude hinaus, und ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Diese Strecke legt man im Normalfall mit dem Zug in 20 Minuten zurück. Ich wurde aber mit dem Wagen geführt, und wir brauchten über sieben Stunden! Wir waren gegen vier Uhr Nachmittag aufgebrochen, und ich kam erst weit nach Mitternacht daheim an.
ÖSTERREICH: Können Sie die Situation auf den Straßen schildern?
Ozawa: Alle wollten so schnell wie möglich nach Hause, aber es gab kein Weiterkommen mehr. Viele verließen ihre Autos und machten sich zu Fuß auf den Weg. Ich selbst musste wegen meines Rückenleidens allerdings im Wagen bleiben. Es war eine echte Paniksituation.
Judoka Paischer verlässt Trainingscamp: "Lage zu unsicher"
© GEPA pictures/ Reinhard Müller
Judoka Ludwig Paischer flieht aus Japan, kehrt heute nach Österreich zurück: "Die Lage im Kernkraftwerk ist zu unsicher".
Ursprünglich wollte der Olympia-Silbermedaillen-Gewinner bis 18. März in Tokio bleiben und trainieren. Nach Beben, Tsunami und den dramatischen Entwicklungen im Kernkraftwerk Fukushima wollte Paischer nur mehr weg: "Niemand konnte klar sagen, wie sich die Situation entwickeln wird", sagt Paischer. Deshalb organisierte Taro Netzer vom Salzburger Landesverband die frühzeitige Rückreise. Austrian Airlines betreiben noch immer zwei tägliche Flüge von Wien nach Tokio.
Paischer hat das Killer-Beben in seinem Hotelzimmer erlebt: "Ich wollte mich gerade auf die nächste Trainingseinheit vorbereiten", sagt er zu ÖSTERREICH, "als es losging". Zuerst seien Wasserflaschen umgefallen, dann kippte der Koffer vom Kasten: "Ich bin sofort aus dem Zimmer gelaufen. Draußen hat schon das Personal gerufen: 'alle raus auf die Straße, schnell'."
Mit Tausenden anderen flüchtete sich Paischer auf einen Platz vor einem Baseball-Stadion. Auf einer riesigen Videowall liefen die Bilder der schrecklichen Katastrophe: "Schockierend, schrecklich, beklemmend. Ich war schon oft in Japan, aber so etwas habe ich noch nie erlebt."
Ursprünglich wollte Paischer bleiben, für die EM in Istanbul weiter trainieren. Die dramatischen Meldungen über den Reaktorunfall, eine mögliche radioaktive Verseuchung waren zu viel: "Weil nichts mehr kalkulierbar war", sagt der Judoka. Auch das deutsche Team reiste sofort ab.