Zwei Gegenstimmen - Wahl im Europaparlament am 16. Juli.
Der EU-Gipfel in Brüssel hat den früheren Luxemburger Regierungschef Jean-Claude Juncker für das Amt des nächsten EU-Kommissionspräsidenten nominiert. Dies teilte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy via Twitter mit. Nach Angaben von Diplomaten erfolgte die Entscheidung mit 26 pro-Stimmen gegen die Stimmen des britischen Premier David Cameron und des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban.
Cameron: "Schwerer Fehler"
Cameron bezeichnete die Nominierung Junckers als "schweren Fehler". Nach Ende des EU-Gipfels betonte er jedoch in Brüssel, man müsse "bereit seinen eine Schlacht zu verlieren um einen Krieg zu gewinnen". Die EU-Staaten hätten Großbritannien zugesichert, an weiteren Integrationsschritten nicht teilnehmen zu müssen. Cameron betonte, er wolle dennoch an der britischen EU-Mitgliedschaft festhalten.
Faymann verteidigt Juncker-Abstimmung
Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) zeigte sich erfreut über die Nominierung Junckers. Die erstmalige Abstimmung "war keine Katastrophe". Vielmehr hätte eine fehlende Entscheidung zu einer "schweren Glaubwürdigkeitskrise" der EU geführt, sagte Faymann. Der Kanzler merkte an, es wäre falsch gewesen, "ewig darauf zu warten, bis alle irgendwann bei einem Zufallskandidaten dafür sind". Juncker sei eine "respektvolle erfahrene Persönlichkeit", die "durch pointiertes Auftreten und kantige Meinungen" aufgefallen sei. Außerdem vertrete er eine Linie, die den Leuten das Gefühl vermittle, dass er sich um die Sorgen der Menschen in Europa kümmere.
Wahl Junckers am 16. Juli
Juncker soll am 16. Juli im EU-Parlament als Präsident gewählt werden. Er braucht 376 der insgesamt 751 Stimmen. Vorher muss er sich einer Anhörung stellen. Die beiden großen Parteifamilien Konservative und Sozialdemokraten sowie die Liberalen haben bereits im Vorfeld die Unterstützung des früheren luxemburgischen Ministerpräsidenten und langjährigen Eurogruppen-Chefs angekündigt.
Der heute 59-jährige Christdemokrat Juncker war bis zu seiner Abwahl als Luxemburger Regierungschef dienstältester Europäer in der Gipfelrunde. Er war von 2004 bis Ende 2012 Chef der Eurogruppe.
Kompromiss im Streit um Stabilitätspakt
Der wochenlange Streit um eine mögliche Aufweichung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde dagegen in Brüssel mit einem klassischen europäischen Kompromiss gelöst. In der Abschlusserklärung des Gipfels wird festgehalten, dass es keine Änderung an den Bestimmungen zu den erlaubten Defiziten geben wird. Nach Angaben von Merkel betrifft dies auch die Verordnungen und Richtlinien, die nach der Finanzkrise in der EU für eine straffere Haushaltsführung beschlossen worden waren, also etwa das sogenannte "Six-pack".
Gleichzeitig wird betont, dass die vorhandene Flexibilität in den Bestimmungen auf die "beste Weise" genutzt werden solle. Merkel betonte, "beste" Nutzung der Flexibilität bedeute aber nicht "umfangreichste" Nutzung. Die EU-Kommission müsse wie bisher im Einzelfall prüfen, ob Ländern Abweichungen von den Defizitvorgaben erlaubt werden sollten.
Vor allem Frankreich und Italien hatten gefordert, dass Länder im Gegenzug für Strukturreformen mehr Zeit für das Erreichen ihrer Defizitziele bekommen sollen. Italien, dessen Haushaltsdefizit anders als etwa das Frankreichs unterhalb der erlaubten Drei-Prozent-Grenze liegt, hatte mehrfach darauf verwiesen, dass es etwa Probleme beim Einsatz der EU-Mittel zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit habe. Um die rund 1,5 Milliarden Euro EU-Geld für das Land abzurufen, wäre eine nationale Kofinanzierung nötig, die dann die Schuldenquote des Landes erhöhen würde. Die EU-Kommission hatte in diesem und im vergangenen Jahr aber abgelehnt, dass diese Aufgaben nicht auf das nationale Defizit angerechnet werden.
Möglicherweise wird Italien aber im kommenden Jahr erneut die Nicht-Anrechnung oder mehr Zeit zur Senkung seines Schuldenstands beantragen. Auch Frankreich hatte im vergangenen Jahr von der EU im Gegenzug für versprochene Reformen zwei Jahre mehr eingeräumt bekommen, um seine Defizitziele zu erreichen.
Bei der inhaltlichen Ausrichtung der Union kamen die EU-Regierungen Großbritannien entgegen. In den Gipfel-Text wurde ein Passus aufgenommen, dass die weitere Ausrichtung der EU diskutiert und verschiedenen Geschwindigkeiten bei der Integration in der EU erlaubt werden sollte. Zudem solle im EU-Rat noch einmal über das künftige Besetzungsverfahren für den Kommissionspräsidenten gesprochen werden. Hintergrund ist eine zunehmend europakritische Stimmung in Großbritannien. Cameron hat den Wählern versprochen, dass es im Falle seiner Wiederwahl als Premierminister 2017 ein Referendum über den Verbleib des Landes in der EU geben solle.
Merkel betonte erneut, dass sie das Land unbedingt in der EU halten wolle. "Ich glaube, dass wir durch die Schlussfolgerungen gezeigt haben, dass wir durchaus bereit sind, britischen Sorgen und Aufforderungen aufzunehmen", betonte die Kanzlerin. Die neue Agenda entspreche den britischen Forderungen nach einer "modernen, offenen und effizienten" Union. Merkel kritisierte zugleich, dass von den sechs Milliarden Euro, die die EU im vergangenen Jahr für den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit bereitgestellt hatte, von den besonders betroffenen Staaten noch kein Geld eingesetzt worden sei.