In Südafrika bahnt sich eine politische Zeitenwende an. Erstmals seit Ende des rassistischen Apartheid-Systems 1994 könnte die ehemalige Befreiungsbewegung und heutige Regierungspartei Afrikanischer Nationalkongress (ANC) bei der Parlamentswahl ihre absolute Mehrheit verlieren.
Es wäre das Ende der Einparteienregierung. Deshalb sprechen manche von "Schicksalswahlen" oder einem "Referendum für die Zukunft".
Hochrechnungen und Umfragen lassen wenig Zweifel: Es ist nahezu sicher, dass der ANC bei dieser Wahl unter die 50-Prozent-Marke fällt. Je nachdem wie hoch die Verluste sein werden, gibt es verschiedene Koalitionsszenarien, sagt Aleix Montana, Analyst der Risikoberatungsfirma Verisk Maplecroft. Sollte der ANC nur um ein oder zwei Prozentpunkte an einer absoluten Mehrheit vorbeischrammen, könnte er mit ein oder zwei Kleinparteien ein Bündnis schließen, aber prinzipiell das politische Sagen behalten, so Montana. Würde der ANC jedoch auf 45 Prozent oder weniger abstürzen, müsste er eine Koalition mit einer größeren Oppositionspartei eingehen und damit erstmals politische Kompromisse schließen.
Land in der Krise
Besonders in den vergangenen 15 Jahren hat der ANC enorm an Unterstützung verloren. Laut dem jüngsten Bericht des Befragungsinstituts Afrobarometer sind 85 Prozent der Bevölkerung unzufrieden mit der Richtung, die das Land eingeschlagen hat. Etwa die Hälfte glaubt, Südafrikas Demokratie leide an "massiven Problemen". Mehr als 70 Prozent gaben an, dem Präsidenten und Parlament "überhaupt nicht" oder "nur wenig" zu vertrauen.
Die Gründe sind politischen Kommentatoren zufolge offensichtlich: Obwohl Südafrika das wirtschaftsstärkste Land Afrikas bleibt, stagniert das Wirtschaftswachstum seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 41 Prozent. Korruption und Misswirtschaft sind zu Synonymen der Regierungsführung geworden. Das Ergebnis sind marode Staatsunternehmen, eine zusammenbrechende Strom- und Wasserversorgung sowie fehlende Investitionen in die Infrastruktur kombiniert mit hoher Kriminalität und einer dysfunktionalen Strafjustiz. "Die Demokratie hat Südafrika zwar politische Freiheit gebracht, aber die wirtschaftliche Freiheit ist auf der Strecke geblieben", erklärt Jan Hofmeyer, politischer Analyst beim Institut für Justiz und Versöhnung (IJR).
Katastrophale Bilanz
Die Regierungsbilanz des ANC sei "katastrophal", meint auch Gregor Jaecke, der Büroleiter der CDU-nahen, deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung in Südafrika. Von 2009 bis 2018 untergruben der ehemalige Präsident Jacob Zuma und seine Regierung den Staat durch Korruption und Günstlingswirtschaft. Trotz vieler Versprechungen konnte Zumas Nachfolger Cyril Ramaphosa dem kein Ende setzen. "Der Staat ist zur Beute einer gierigen politischen Elite geworden, die staatliche Institutionen systematisch ausgehöhlt hat", sagt Jaecke. Er warnt, Südafrika befinde sich auf dem Weg zu einem gescheiterten Staat.
Mitglieder von 52 Parteien konkurrieren am Mittwoch um die 400 Sitze des Nationalparlaments. Auch die neun Provinzregierungen werden gewählt. Nach Bekanntgabe der Ergebnisse muss das neue Parlament innerhalb von 14 Tagen eine Regierung bilden und einen Präsidenten ernennen. Obwohl viel auf dem Spiel steht, wollen viele Südafrikaner der Wahl fern bleiben. Von den 40,1 Millionen Wahlberechtigten haben sich 27,4 Millionen, oder etwa 68 Prozent, registriert.
"Weil der Vertrauensverlust in den ANC derart groß ist, ist das nicht verwunderlich", sagt der politische Analyst Ebrahim Fakir. Vor allem unter jungen Menschen herrsche viel Politikverdrossenheit und Zynismus gegenüber der Regierung. Somit werden politische Alternativen zunehmend attraktiv. Laut einer landesweiten Umfrage der Brenthurst Stiftung würden knapp 80 Prozent der Südafrikaner eine Koalitionsregierung begrüßen, zumindest theoretisch.
Denn wenn der Moment kommt, an dem das Kreuz auf dem Wahlzettel gemacht werden muss, fällt es vielen Wählern trotz aller Klagen schwer, sich von der ehemaligen Partei des Freiheitskämpfers Nelson Mandela, die gegen die Unterdrückung der schwarzen Mehrheit durch eine weiße Minderheit kämpfte, abzuwenden. Besonders ältere Südafrikaner im ländlichen Raum bleiben dem ANC treu. Trotz einer bescheidenen Regierungsbilanz gilt Präsident Ramaphosa weiter als beliebtester Politiker des Landes, auch wenn seine Popularität in vergangenen Monaten gesunken ist.
Die größte Bedrohung für den ANC stellen die wirtschaftsliberale Democratic Alliance (DA), die bereits das Westkap, in der sich die Touristenmetropole Kapstadt befindet, auf Landesebene regiert, sowie die marxistisch geprägten Economic Freedom Fighters (EFF) dar. Dazu kommt der unberechenbare Neuling in der politischen Landschaft, die von Ex-Präsident Zuma angeführte uMkhonto we Sizwe (MK) Partei, die erst vor einem halben Jahr gegründet wurde und noch kein Parteiprogramm aufgestellt hat.
Zuma bleibt Zugpferd
Obwohl Zuma nicht als Abgeordneter kandidieren darf – das Verfassungsgericht schloss ihn aufgrund einer Verurteilung 2021 von der Wahl aus – bleibt er ein nicht zu unterschätzendes politisches Zugpferd, das innerhalb kürzester Zeit Menschenmassen mobilisieren kann. Prognosen zufolge soll die MK auf 10 bis 14 Prozent kommen. Diese dürften hauptsächlich dem ANC Stimmen kosten, meint Montana.
Auch für Europa ist die Wahl bedeutsam. Das 61-Millionen-Einwohner Land ist laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die größte und am stärksten industrialisierte Wirtschaftskraft auf einem Kontinent, der aufgrund seiner Rohstoffvorkommen immer wichtiger wird.
Die Stimmung sei "gemischt, aber nicht hoffnungslos", sagt Jens Papperitz von der deutschen Außenhandelskammer im südlichen Afrika. Man erwarte nach der Wahl keine massive Instabilität. Allerdings bräuchten ausländische Investoren in Südafrika generell "sehr hohe Resilienz und Frustrationstoleranz", so Papperitz.
Außenpolitisch hat sich Südafrika, ein politisches Schwergewicht auf dem Kontinent, zunehmend von westlichen Partnern distanziert. Das Land pflegt enge Beziehungen zu Russland und China. Auch mit dem Iran, der seit Jahresbeginn zusammen mit Südafrika, Russland und China zur BRICS-Gruppe wichtiger Schwellenländer gehört, hat Südafrika die bilateralen Beziehungen gestärkt. Hinzu kommt Südafrikas Klage vor dem Internationalen Gerichtshof, Israel verletze die Völkermord-Konvention. Südafrika ist auch nicht bereit, Stellung gegen Russland wegen dessen Angriffskrieg in der Ukraine zu beziehen.
"Vom Wahlergebnis hängt auch ab, ob sich die südafrikanische Außenpolitik weiter in Richtung Russland und China orientiert oder die Beziehungen zum Westen intensiviert werden", sagt Hanns Bühler von der Hanns-Seidel-Stiftung in Südafrika. Die These: Ein starker ANC wird voraussichtlich den aktuellen Kurs stärken, während ein geschwächter ANC mit Druck eines Koalitionspartners eventuell wieder größeren Wert auf westliche Partner legt.