Islamisten im Aufwind
Droht in Tunesien ein Staatsstreich?
09.05.2011
Islamisten-Chef bezweifelt die Glaubwürdigkeit der Regierung.
Nach viertägigen Demonstrationen gegen die Übergangsregierung versetzen Staatsstreich-Gerüchte die tunesische Öffentlichkeit in Aufregung. Premierminister Beji Caid Essebsi hat in der Nacht auf Montag Vertretern des früheren autoritären Regimes "Verantwortungslosigkeit" vorgeworfen und insbesondere gerichtliche Schritte gegen Ex-Innenminister Farhat Rajhi gefordert. Dieser hatte für den Fall eines Sieges der Islamisten-Partei Ennahdha (Ennahda) bei den geplanten Wahlen zu einer konstituierenden Nationalversammlung am 24. Juli die Machtübernahme des Militärs vorausgesagt.
Premier nennt Ex-Innenminister "gefährlichen Lügner"
In einer Fernsehrede nannte Essebi den Ex-Innenminister einen "gefährlichen Lügner", der Zwist und Hader zu erzeugen versuche. Rahji hatte unter anderem behauptet, Essebsi sei nach Algerien gefahren, um das weitere Vorgehen mit der dortigen Führung zu koordinieren. Um einen Erdrutschsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) bei den ersten pluralistischen Wahlen in Algerien Ende 1991 zu verhindern, hatte das Militär den Urnengang abgebrochen, den Ausnahmezustand verhängt und die islamistische Partei verboten. Dies führte zu einem mehrjährigen Bürgerkrieg mit schätzungsweise 200.000 Toten. Seit 1999 amtiert Präsident Abdelaziz Bouteflika als ziviles Aushängeschild der Armee.
Am Sonntag waren die tunesischen Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen Demonstranten im Zentrum von Tunis vorgegangen. Die Regierung verhängte eine nächtliche Ausgangssperre.
Islamisten bezweifeln Glaubwürdigkeit der Übergangsregierung
Ennahdha-Chef Rached Ghannouchi stellte unterdessen die Glaubwürdigkeit der Übergangsregierung infrage und bescheinigte zugleich den Streitkräften, "die einzige Säule" des Landes zu sein. Er warf Rajhi in einem Interview vor, "in einem explosiven Klima Öl ins Feuer gegossen" zu haben. Wenn die Armee und ihr Chef General Rachid Ammar die Macht hätten übernehmen wollen, hätten sie es schon längst getan, so wie der Militärrat in Ägypten beim Sturz von Staatschef Hosni Mubarak. Die "wichtigste Botschaft" von Ennahdha ("Wiedererweckung") sei, zum "Erfolg des Übergangs von einer Polizeidiktatur zu einem demokratischen System beizutragen", sagte Ghannouchi.
Ennahdha hatte bei Wahlen im Jahr 1989 mit ihren Kandidaten 17 Prozent der Stimmen bekommen und war Anfang der 1990er Jahre von Staatschef Zine El Abidine Ben Ali verboten worden. Etwa 30.000 Mitglieder wurden eingesperrt, Hunderte verließen Tunesien. Der derzeitige Parteichef Ghannouchi (69) verbrachte 20 Jahre im Exil. Er kündigte an, dass weder er noch ein anderes Mitglied seiner Partei für das tunesische Präsidentenamt kandidieren werde. Die Partei steht nach eigener Darstellung für einen gemäßigten Islam und vergleicht sich mit der islamisch-konservativen türkischen Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Premier Recep Tayyip Erdogan.