Separatisten besetzen Rathaus von Donezk und erobern Panzer.
Kurz vor dem Krisentreffen in Genf entgleitet der ukrainischen Regierung immer mehr die Kontrolle über den Osten des Landes. Pro-russische Separatisten besetzten am Mittwoch das Rathaus der Bergarbeiterstadt Donezk, die das industrielle Zentrum der Region bildet. Zudem gab es Berichte über Überläufer in der ukrainischen Armee. Den Separatisten fielen sechs Schützenpanzer in die Hände.
Eine ukrainische Militärkolonne mit 20 Panzern und gepanzerten Fahrzeugen wurde zunächst von Anrainern in Kramatorsk 20 Kilometer vor Slawjansk gestoppt. Anschließend kaperten Uniformierte ohne Abzeichen sechs der Panzerfahrzeuge und fuhren damit durch die Innenstadt von Slawjansk - unter russischen Flaggen. Sie gaben sich gegenüber Reportern als "Selbstverteidigungskräfte" von der Krim aus und sagten, 150 ukrainische Soldaten hätten sich ihnen angeschlossen.
Am Nachmittag gab auch der Rest der Militärkolonne auf. Die Soldaten begannen, vor einem uniformierten Mann ohne Abzeichen ihre Waffen unbrauchbar zu machen, wie Reporter berichteten. Im Gegenzug erhielt der Trupp die Zusicherung, mit den Militärfahrzeugen den Rückweg antreten zu können.
In Donezk stürmten rund 20 prorussische Bewaffnete das Rathaus. In der Region Lugansk wurden nach Angaben des Kiewer Verteidigungsministeriums zwei ukrainische Soldaten von prorussischen Aktivisten als "Geiseln" genommen.
Im Osten der Ukraine, wo Separatisten Verwaltungsgebäude in zehn Städten besetzt halten, liefen Soldaten auf die Seite der pro-russischen Kräfte über. Einer von ihnen sagte in Slawjansk, er und andere Angehörige seiner Fallschirmjäger-Einheit hätten sich entschieden, die Seiten zu wechseln, weil sie nicht auf das eigene Volk schießen wollten. Die Soldaten zählten zu den Truppen, die Slawjansk und Kramatorsk eigentlich im Auftrag der Regierung zurückerobern sollten. "Sie haben uns in unserem Stützpunkt drei Tage lang nichts zu essen gegeben. Hier bekommen wir etwas zu essen. Was glauben Sie, für wen wir kämpfen?", fragte er. Die ukrainische Armee gilt als marode und unterfinanziert.
Der Einsatz der Fallschirmjäger gegen die Separatisten hatte am Vortag am Flughafen von Kramatorsk begonnen. Am frühen Mittwochmorgen fuhren die Soldaten mit ihren Schützenpanzern und darauf aufgepflanzten ukrainischen Fahnen in die Stadt hinein. Später allerdings trafen einige derselben Fahrzeuge mit russischen und Separatisten-Flaggen vor dem besetzten Rathaus in Slawjansk ein. Auf den Panzern saßen schwer bewaffnete Männer in den unterschiedlichsten Uniformen. Einige Bewohner winkten den Männern zu und riefen: "Russland, Russland" oder "Gut gemacht, Jungs!".
In Kramatorsk versorgten Bewohner Soldaten mit Tee und Lebensmitteln. Die Armeeangehörigen wirkten erschöpft. Ein Zivilist berichtete, er habe gesehen, wie ukrainische Soldaten ihre gepanzerten Fahrzeuge pro-russischen Separatisten übergeben hätten. Der ukrainische Verteidigungsminister Mihailo Kowal kündigte eine Reise in den Osten an, um sich über die Lage der Truppen zu informieren.
Die ukrainischen Überläufer in Kramatorsk und Slawjansk seien mit ihren gepanzerten Fahrzeugen in Kolonne durch die beiden Städte rund 80 Kilometer nördlich der Gebietshauptstadt Donezk gefahren, berichteten örtliche Medien. Das Verteidigungsministerium in Kiew wies die Berichte zurück. Es handle sich um Fälschungen. In anderen Städten der Region bildeten sich Bürgerwehren. Sie wollten die Sicherheitskräfte der prowestlichen Führung in Kiew unterstützen und sich gegen die Separatisten verteidigen.
Ein Sprecher der prorussischen Separatisten in Slawjansk sagte der Agentur Interfax, etwa 300 ukrainische Soldaten hätten eingewilligt, ohne ihre Waffen von der Stadt abzuziehen. Bewohner berichteten der Nachrichtenagentur dpa, dass in der Bevölkerung Angst herrsche und sich kaum noch jemand auf die Straße traue.
Der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk beschuldigte Russland, den "Terrorismus in die Ukraine zu exportieren". Die russische Führung benutze verdeckt operierende Truppen, um bewaffnete Separatisten zu organisieren, sagte er.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow dagegen konterte, der Einsatz der Truppen in der Ost-Ukraine sei inakzeptabel. Die Führung in Kiew müsse auf die Stimme des Volkes hören und Gewalt vermeiden. Putin beklagte, der Einsatz ukrainischer Truppen in den östlichen Grenzregionen bringe die Ukraine an den Rand eines Bürgerkriegs. In einem Gespräch mit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon warnte er vor einem Scheitern des Krisengesprächs in Genf.
In Genf sollten die diplomatischen Bemühungen zur Beendigung der Krise am Donnerstag in eine neue Runde gehen: Neben Diplomaten der USA und der EU treffen dort auch erstmals seit Beginn des Konflikts die Außenminister Russlands und der Ukraine zu direkten Verhandlungen aufeinander.
Die Entwicklungen in der Ukraine nährten die Sorge, dass das Krisentreffen am Donnerstag in Genf misslingen könnte. "Ein Scheitern ist nicht erlaubt!" appellierte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier an alle Beteiligten. "Denn die Lage im Osten der Ukraine wird immer bedrohlicher."
Die NATO beschloss unterdessen, in den kommenden Tagen weitere Luft-, See- und Landstreitkräfte in die östlichen Randgebiete der Allianz zu verlegen. Die NATO reagierte damit auf Bitten der drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie Polens und Rumäniens. Vor allem im Baltikum gibt es große russischstämmige Bevölkerungsminderheiten.
Die NATO will auch durch verstärkte Manöver mehr Präsenz zeigen. Es sei aber keine Entscheidung zur Errichtung von dauerhaften Stützpunkten in osteuropäischen NATO-Ländern gefallen, sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Der militärische Oberkommandeur, US-Generals Philip Breedlove, betonte, die Maßnahmen seien keine Bedrohung Russlands, sondern "von Natur aus defensiv".
Der ehemalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, Harald Kujat, warf der NATO Versagen in der Ukraine-Krise vor. Das Bündnis habe vor der Krim-Krise "überhaupt keinen Beitrag zur Deeskalation" geleistet, sagte der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses im Sender Bayern2 (radioWelt am Morgen). "Die NATO hätte von Anfang an mit Russland verhandeln müssen, denn sie hat eine strategische Partnerschaft mit Russland", sagte Kujat.
Nach Ansicht des luxemburgischen Europapolitikers Jean-Claude Juncker zeigen indes die bisher von der EU gegen Russland verhängten Sanktionen Wirkung. "Man weiß ja jetzt schon, was es an Kapitalabfluss aus Russland in den vergangenen Wochen und Tagen gegeben hat. Das geht nicht wirkungslos an Russland vorbei", sagte Juncker in Straßburg. Der frühere luxemburgische Ministerpräsident ist Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) für die Europawahl Ende Mai.
Bisher hat die EU wegen der Annexion der Krim durch Russland Kontensperrungen und Einreiseverbote gegen Einzelpersonen verhängt. Über neue Wirtschaftssanktionen wurde noch nicht entschieden.
Journalisten sind indes in den Konfliktgebieten in der Ukraine mit Gewalt, Einschüchterung und psychologischer Kriegsführung konfrontiert, teilte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Mittwoch in einer Aussendung mit.