Provinzhauptstadt Pul-i Alam nahe Kabul fällt an Taliban – NATO-Sondersitzung am Freitag.
Herat/Kabul/Wien. Afghanistan steht in diesen Tagen am Abgrund, die afghanischen Regierungstruppen werden von der Offensive der radikalislamischen Taliban offenbar überwältigt. Washington muss 3000 Soldaten am Flughafen in Kabul stationieren, um den Abzug von Botschaftspersonal zu sichern. Eine tägliche Luftbrücke soll die afghanischen Helfer der US-Armee außer Landes bringen.
Nach zwei Jahrzehnten geht die US-Präsenz am Hindukusch auf chaotische Weise zu Ende. Inzwischen kontrollieren die Taliban bereits die meisten Städte und ländlichen Regionen. Eine aktuelle Karte zeigt, wie viel Gebiete Afghanistans bereits erobern konnten:
Mit Pul-i Alam haben die militant-islamistischen Taliban jetzt auch die Provinzhauptstadt nur rund 70 Kilometer südlich von der Hauptstadt Kabul erobert. Mit Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul übernahmen die Taliban zwei weitere Provinzhauptstädte im Süden des Landes. Damit nahmen die Taliban in einer Woche 18 der 34 Provinzhauptstädte ein. Die NATO kommt angesichts des raschen Taliban-Vormarsches in Afghanistan am Freitag zu einer Sondersitzung zusammen.
Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen
Pul-i Alam mit seinen geschätzt 120.000 Einwohnern ist die Hauptstadt der Provinz Logar im Osten des Landes. Die Islamisten hätten die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen und den Provinzgouverneur sowie den Geheimdienstchef gefangen genommen, sagten ein Provinzrat und ein Parlamentarier der dpa am Freitag. Aus Sicherheitskreisen heißt es seit längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Die Taliban kontrollieren fünf der sieben Bezirke, die zwei näher zur Provinz Kabul liegenden - Choschai und Mohammed Agha - sind umkämpft. Von Pul-i Alam sind es nur rund eineinhalb Stunden mit dem Auto nach Kabul.
Mit Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul übernahmen die Taliban zwei weitere Provinzhauptstädte im Süden des Landes. Das bestätigten lokale Behördenvertreter der dpa am Freitag. Demnach sind beide Städte friedlich an die Islamisten übergeben worden. Damit haben die Taliban binnen einer Woche 18 der 34 Provinzhauptstädte eingenommen.
Sicherheitskräfte in Tirinkot ergaben sich den Taliban
In Tirinkot mit geschätzt 116.000 Einwohnern hätten sich alle Sicherheitskräfte den Taliban ergeben, sagte ein Parlamentarier. Sie hätten ohnehin nirgendwohin fliehen können, weil alle Straßen aus der Stadt von den Islamisten blockiert worden seien.
Die Hauptstadt der Nachbarprovinz Sabul, Kalat mit geschätzt 44.000 Einwohnern, sei ebenso kampflos an die Islamisten übergeben worden, hieß es weiter. In den vergangenen Wochen noch hatten die Sicherheitskräfte sich immer wieder Gefechte mit den Taliban am äußeren Ring der Stadt geliefert.
In der Nacht auf Freitag war die zweitgrößte Stadt Kandahar im Süden des Landes an die Taliban gefallen, am Freitag früh noch die wichtige Stadt Laschkargah in Kandahars Nachbarprovinz Helmand.
Die NATO kommt unterdessen angesichts des raschen Vormarsches der radikalislamischen Taliban in Afghanistan am Freitag zu einer Sondersitzung zusammen. Wie die Nachrichtenagentur AFP aus NATO-Kreisen erfuhr, wird Generalsekretär Jens Stoltenberg eine Sitzung der Nato-Botschafter um 15.00 Uhr in Brüssel leiten. Zentrales Thema sollen demnach die Planungen für Evakuierungsmaßnahmen in Afghanistan sein.
USA wollen 3.000 Soldaten nach Kabul senden
Die USA hatten am Donnerstag wegen des verschärften Konflikts die Entsendung von rund 3.000 Soldaten in die Hauptstadt Kabul angekündigt. Sie sollen bei der Evakuierung von US-Botschaftsmitarbeitern helfen. Die Regierung in London will rund 600 Soldaten nach Kabul entsenden, um die Botschaft abzusichern und die Ausreise von britischen Staatsbürgern sowie früheren afghanischen Ortskräften zu unterstützen.
Herat, die drittgrößte Stadt Afghanistans, ist unterdessen nach Angaben eines Regierungsbeamten nun größtenteils in der Hand der Taliban. Die Regierungstruppen würden in der Stadt mit ihren 600.000 Einwohnern an der Grenze zum Iran nur noch den Flughafen und ein Armeelager kontrollieren, sagt ein Regierungs-Beamter. "Familien haben die Stadt entweder verlassen oder verstecken sich in ihren Häusern."
Die Taliban brachten einem Lokalpolitiker zufolge nach der Einnahme der Stadt Herat einen wichtigen Milizen-Kommandeur in ihre Gewalt. Mohammed Ismail Khan sei zusammen mit dem Provinzgouverneur und Sicherheitsbeamten den Taliban übergeben worden, sagt Provinzratsmitglied Ghulam Habib Haschimi. Die Taliban hätten zugesagt, den Beamten keinen Schaden zuzufügen.
Iran zeigte sich extrem besorgt
Der Iran zeigte sich unterdessen extrem besorgt um die Sicherheit seiner Diplomaten in Herat. "Wir sind im ständigen Kontakt mit unserem Konsulat in Herat und sind extrem besorgt um Sicherheit und Gesundheit unserer Diplomaten dort", twitterte Außenamtssprecher Said Chatibsadeh am Freitag. Er rief die Taliban auf, die internationalen Regeln zu diplomatischen Einrichtungen zu achten und einzuhalten.
Angesichts der verschärften Sicherheitslage in Afghanistan prüft das österreichischen Außenministerium unterdessen den Aufenthalt von Österreichern in dem Krisenstaat. Derzeit sei eine "sehr niedrige Zahl im zweistelligen Bereich" an österreichischen Staatsbürgern in Afghanistan registriert, sagte eine Ministeriumssprecherin am Freitag der APA. Man überprüfe gerade, wer überhaupt noch in dem Land sei. Bisher habe sich aber noch "keine Person an uns gewandt".
Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace steht Afghanistan vor einem Bürgerkrieg. Der Westen müsse verstehen, dass die Taliban keine Einheit seien, sondern ein Sammelbecken für zahlreiche, miteinander rivalisierende Interessen, sagte Wallace der BBC. "Und ich denke, wir steuern auf einen Bürgerkrieg zu."
Warnung vor Rückkehr des Terrornetzwerkes Al-Kaida
Wallace warnte vor einer Rückkehr des Terrornetzwerkes Al-Kaida nach Afghanistan. Der Abzug westlicher Truppen komme zum falschen Zeitpunkt, sagte er dem britischen Nachrichtensender Sky News am Freitag.
"Al-Kaida wird wahrscheinlich zurückkommen", sagte Wallace. Die Schuld daran gab er dem früheren US-Präsidenten Donald Trump. Dessen Abkommen mit den Taliban über den Abzug sei ein Fehler gewesen, so der Minister weiter. Großbritannien habe aber keine andere Wahl, als zu folgen. Er fügte hinzu: "Wir alle werden als internationale Gemeinschaft die Konsequenzen tragen müssen."
Wallace schloss indes nicht aus, erneut britische Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Das könne der Fall sein, wenn sich dort die Extremisten der Al-Kaida in einer Weise aufstellten, dass sie den Westen bedrohten, sagt der Verteidigungsminister dem Sender LBC. "Ich lasse mir da jede Option offen."