Unabhängigkeits-Poker
Katalonien macht einen Rückzieher
10.10.2017
Das gab der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont am Dienstag bekannt.
Der Regierungschef von Katalonien, Carles Puigdemont, will am Ziel einer Unabhängigkeit von Spanien festhalten. Er setze diesen Prozess aber aus, um in den nächsten Wochen einen Dialog und eine Vermittlung einzuleiten, sagte er am Dienstag vor dem Regionalparlament in Barcelona.
Damit hat der Chef der Regionalregierung eine weitere Zuspitzung der Krise vorerst vermieden. Puigdemont hält weiterhin an seinen Unabhängigkeitsplänen fest. Er bat das Parlament in Barcelona um ein Mandat, um Katalonien zu einem unabhängigen Staat zu erklären.
Am Sonntag vor einer Woche hatte Puigdemont ungeachtet eines Verbots durch das Verfassungsgericht und gegen den Willen der Zentralregierung in Madrid ein Referendum über die Unabhängigkeit abhalten lassen. Bei der von den Gegnern der Abspaltung mehrheitlich boykottierten Befragung gewann das "Ja"-Lager mit rund 90 Prozent, die Beteiligung lag jedoch bei nur 43 Prozent. Dennoch reklamierte Puigdemont anschließend, damit habe Katalonien das "Recht auf Unabhängigkeit" erlangt.
Puigdemonts Auftritt vor dem Regionalparlament am Dienstag in Barcelona war mit Spannung und Nervosität erwartet worden. Noch kurz vor seiner Rede hatte der Innenminister der Zentralregierung, Juan Ignacio Zoido, einen "letzten Aufruf" an Puigdemont gemacht, von einer Unabhängigkeitserklärung abzusehen.
Friedliche Stimmung
Schon ab dem Nachmittag hatten sich immer mehr Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung unweit des Parlaments versammelt. Die Stimmung war zunächst gespannt, aber friedlich. Auf dem Platz vor dem Parlament brandete immer wieder Jubel auf, wenn Puigdemont vom Ergebnis des Referendums sprach.
Puigdemont kritisierte bei seiner Rede von dem Parlament in Barcelona die Zentralregierung in Madrid heftig. Diese habe jeden Versuch des Dialogs vonseiten Kataloniens abgelehnt: "Die Antwort war immer eine radikale und absolute Weigerung, kombiniert mit einer Verfolgung der katalanischen Institutionen", sagte der katalonische Regierungschef. An alle Spanier gerichtet fügte er hinzu: "Wir sind keine Verbrecher, keine Verrückten, keine Putschisten."
Ministerpräsident Mariano Rajoy wollte am Mittwoch vor der Abgeordnetenkammer in Madrid Stellung zu Puigdemonts Aussagen beziehen. Sowohl die Abstimmung als auch ihr Ergebnis ist in Spanien und auch in Katalonien höchst umstritten. In der regionalen Hauptstadt Barcelona waren am Sonntag Hunderttausende Menschen gegen die Abspaltungspläne auf die Straße gegangen.
Separatisten enttäuscht von Puigdemonts "Rückzieher"
Alejandra ist enttäuscht. "Puigdemont hätte heute die Unabhängigkeit mit sofortiger Wirkung erklären müssen", sagt die 22-jährige Biologie-Studentin. Sie schaut immer noch ungläubig auf die riesige Leinwand auf dem Passeig Lluis Companys vor dem Triumphbogen Barcelonas, wo der Regionalsender TV3 live die Ansprache von Kataloniens separatistischem Ministerpräsidenten vor dem Regionalparlament übertrug.
Carles Puigdemont hatte soeben die angekündigte Unabhängigkeit von Spanien verschoben und zu Gesprächen aufgerufen. Er setze den Unabhängigkeitsprozess aus, um in den nächsten Wochen einen Dialog und eine Vermittlung mit Madrid einzuleiten. "Er ist eingeknickt. Das war ein Rückzieher. Was soll das Gerede über Dialog, internationale Vermittlung, und dass wir es geschafft haben, dass man uns nach dem Unabhängigkeitsreferendum jetzt endlich respektiert und anhören wird? Wir wollen die Unabhängigkeit", ärgert sich Alejandra im Gespräch mit der APA.
Sie hat sich eine grüne Fahne der separatistischen Bürgerbewegung ANC mit einem großen, weißen "Si" über die Schultern gehängt. Das "Ja" steht für die Unabhängigkeit Kataloniens. Alejandra muss sich erst einmal eine Zigarette anzünden, um sich wieder zu beruhigen. Ihre fünf Kommilitoninnen, mit denen sie seit dem frühen Nachmittag auf dem Platz vor dem Triumphbogen in der Nähe des Parlaments gewartete hatte, sind ebenfalls enttäuscht. Kleine Gruppen rufen noch in Sprechchören "Independencia" ("Unabhängigkeit"). Doch bei den meisten der Zigtausend Demonstranten, die sich am Dienstagabend auf dem Platz versammelt hatten, um die Ansprache zu sehen, herrscht keine Jubelstimmung.
Alejandra und ihre Freundinnen wählten bei den vergangenen Regionalwahlen die links-separatistische CUP-Partei, die sich nach dem Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter beim Referendum vom 1. Oktober für die sofortige und einseitige Loslösung Kataloniens von Spanien aussprach.
Olga, Alejandras Freundin, hatte schon fast befürchtet, dass Puigdemont den Druck der Wirtschaft und der internationalen Gemeinschaft nicht aushalten und die Tür zum Dialog öffnen würden, um Zeit zu gewinnen. "Es sollte heute der schönste Tag in meinem Leben werden und jetzt sagt Puigdemont, wir hätten uns zwar das Recht gewonnen, unabhängig zu werden, aber suspendierte die Unabhängigkeitserklärung gleichzeitig, um sie zu verhandeln. Was soll das? Rajoy wird sich doch nicht mit ihm an den Verhandlungstisch setzen, hat er noch nie getan", sagt die 21 Jahre alte Olga, die ebenfalls Biologie an der Autonomen Universität von Barcelona studiert.
Dabei waren die Unabhängigkeitsbefürworter auf dem Triumphbogen-Platz vorher noch so euphorisch. Da Puigdemont seine Ansprache um eine Stunde auf 19 Uhr verschoben hatte, zeigte der Regionalsender TV3 Nachrichten, die mit der geplanten Unabhängigkeits-Ansprache in Verbindung standen.
Tusk ausgebuht
EU-Ratspräsident Tusk wurde maßlos ausgebuht, als er Puigdemont in Brüssel am Dienstag aufforderte, die verfassungsmäßige Ordnung zu achten und keine schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Bei den Bildern von Spaniens Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel waren die Buh-Rufe noch lauter.
Als der Regionalsender live übertrug, wie die Oppositionspolitiker, allesamt Unabhängigkeitsgegner, den Plenarsaal des katalanischen Regionalparlaments betraten, schrien die Menschen "Raus Faschisten, raus aus unserem Land".
Dann startete Puigdemont unter Applaus seine lang erwartete Ansprache. Gleich zu Beginn verurteilte er die Gewalt der spanischen Polizei während des Unabhängigkeitsreferendums. Die Demonstranten jubelten und schauten in den Himmel, wo schon seit Stunden die Helikopter der spanischen Polizei kreisten. "Besatzungsmacht, raus aus unserem Land", schrien die Demonstranten und zeigten den Hubschraubern den Mittelfinger.
"Am Anfang dachte ich noch, nun wird Puigdemont sagen, wir werden die Unabhängigkeit einläuten. Aber das ist nun wirklich eine Enttäuschung. Aber das heißt nicht, dass wir aufgeben. Vielleicht hilft uns die Internationale Gemeinschaft nun doch noch und übt Druck auf Rajoy auf, damit wir bei einem legalen Referendum über unsere Zukunft als Nation entscheiden dürften", übt Jorge, ein 33-jähriger Kleinunternehmer aus Barcelona, Zweckoptimismus. Er rollt seine Estelada, Kataloniens Unabhängigkeitsflagge, wieder ein und geht nach Hause.