Meine Nacht mit Klitschko

Wie lange kann man das ertragen? Minus 25 Grad, scharfer, eisiger Polarwind, schneidende, beißende Kälte. Dennoch harren Tausende auf dem Maidan-Platz in Kiew aus. Sie hocken in Zelten, heizen mit Holz, das sie in alten Ölfässern verbrennen. An den meterhohen Barrikaden stehen junge Männer. Sie tragen Helme, sind vermummt, halten Knüppel in ihren Händen.

Verhasster Präsident liegt mit Fieber im Krankenhaus
Es ist kurz nach 24 Uhr, als Vitali Klitschko (42) Mittwochnacht am Maidan-Platz eintrifft. Zwölf Stunden hat er zuvor mit Präsident Viktor Janukowitsch (63) verhandelt. Er wollte ein Amnestiegesetz durchboxen und die Freilassung von 140 noch immer inhaftierten Demonstranten erreichen. Janukowitsch musste nach den Verhandlungen ins Spital eingeliefert werden – hohes Fieber, totale Erschöpfung.

»Klitschko«-Sprechchöre hallen über den Platz
Klitschko aber hält durch (siehe Interview). Selbst zwei Monate Dauerdemo haben ihn nicht mürbe gemacht: „Meine Kondition und die Erfahrung aus dem Sport hilft mir jetzt.“

Er ist eine Wand von einem Mann: 2,02 Meter groß, dunkle Bassstimme. Mit der Panzerweste unter der dicken Jacke und der Pelzmütze wirkt er noch mächtiger. Er tritt auf die Bühne am Maidan-Platz, die Menge jubelt: „Klitschko, Klitschko!“ Dann sagt er: „Wir haben nicht das erreicht, was wir wollten.“ 30 Minuten spricht er. Laut, kraftvoll. Kernaussage: „Der Kampf geht weiter.“ Er muntert seine Anhänger auf: „Haltet durch!“
Kurz nach ein Uhr nachts verlässt der Ex-Boxchamp den Maidan-Platz und fährt ins Hotel 11 Mirrors, das ihm und seinem Bruder Wladimir gehört. Er isst eine Kleinigkeit, gegen zwei lässt er sich nach Hause bringen. Ein 20-Stunden-Tag ist vorbei: „Mir reichen vier Stunden Schlaf“, sagt er.

Klitschko: »Aufstand wird noch größer werden«
ÖSTERREICH: Die Menschen harren in Kiew bei minus 25 Grad nächtelang aus.
Vitali Klitschko: Daran sieht man, wie stark der Wille der Menschen nach Veränderung ist. Unser Ziel ist klar. Rücktritt des Präsidenten, rasche Neuwahlen. Alles andere wird nicht akzeptiert.

ÖSTERREICH: Sie stehen seit zwei Monaten beinahe jeden Tag selbst auf dem Maidan-Platz ...
Vitali Klitschko:  Es geht hierbei nicht um mich, es geht um die Ukraine. Trotz aller Schwierigkeiten wird der Aufstand noch viel größer werden.

(Karl Wendl)