Ein US-Pater hatte zwischen 1950 und 1974 200 gehörlose Kinder missbraucht.
Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, der wichtigste Mitarbeiter von Papst Benedikt XVI., soll einem Medienbericht zufolge in die Vertuschung eines Missbrauchsfalles aus den USA in den neunziger Jahren verwickelt sein. "Zeit online" zitierte am Montag ein geheimes Sitzungsprotokoll des Vatikans, das Bertone belaste. Das Protokoll sei Teil eines Briefwechsels zwischen dem Vatikan und dem damals für die Ermittlungen zuständigen Erzbischof von Milwaukee, Rembert Weakland, im sogenannten Fall Murphy, berichtet die Onlineausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit".
Der Briefwechsel wurde der "Zeit" den Angaben zufolge von Anwälten früherer Opfer des Direktors einer katholischen Gehörlosenschule, Pater Lawrence Murphy, zur Verfügung gestellt, der zwischen 1950 und 1974 bis zu 200 gehörlose Kinder sexuell missbraucht haben soll. Benedikts Nachfolger als Präfekt der Glaubenskongregation, der Kurienkardinal William J. Levada, soll Murphy versetzt haben, ohne die Mitglieder der betroffenen Gemeinde über den Kindesmissbrauch durch den Geistlichen zu informieren.
Ratzinger unschuldig
Laut "Zeit Online" belegen die Dokumente,
dass das Hilfeersuchen des ermittelnden US-Erzbischofs im Fall Murphy zwar
an den damaligen deutschen Kurienkardinal Joseph Ratzinger gerichtet war.
Allerdings sei der Fall im weiteren vom damaligen Sekretär der Kongregation,
Ratzingers Stellvertreter Bertone gehandhabt worden. Die "New York Times"
hatte dem Papst kürzlich vorgeworfen, in die Vertuschung des
Missbrauchsskandals verwickelt zu sein.
"Anders als bisher angenommen, hat nicht der heutige Papst, sondern Bertone den Fall offenbar vertuscht", sagte Patrick Schwarz, Stellvertretender Ressortleiter Politik der "Zeit", am Ostermontag. Die "New York Times" hatte im März den Fall aufgebracht und Joseph Ratzinger, den heutigen Papst, als Verantwortlichen genannt - Ratzinger leitete 1998 als Präfekt die Glaubenskongregation. "Dagegen zeigt das vertrauliche Sitzungsprotokoll der Glaubenskongregation, dass Bertone hier die Federführung hatte", sagte Schwarz.
"Friedliche" Lebensführung
Nach den jetzt als
Faksimile im Internet zugänglichen Dokumente war das Hilfeersuchen des
ermittelnden US-Erzbischofs im Fall Murphy - wie schon die "New York Times"
berichtet hatte - an Ratzinger gerichtet. Allerdings wurde der Fall von
seinem Stellvertreter Bertone gehandhabt, wie inzwischen auch der Vatikan
betont hat. In einem vertraulichen Brief vom 6. April 1998 an den
zuständigen Erzbischof der Diözese von Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin
hat laut "Zeit" Bertone deutlich gemacht, dass der Vatikan von einem
Kirchenprozess gegen den geständigen Täter abrate. Vorausgegangen war, wie
aus den faksimilierten Dokumenten hervorgeht, eine Eingabe des beschuldigten
Priesters beim Vatikan, ihn aufgrund seines angegriffenen
Gesundheitszustandes, seines hohen Alters sowie seiner "friedlichen"
Lebensführung im Priesterstand zu belassen. Diese Argumente habe Bertone
sich in seinem Schreiben zu eigen gemacht, schreibt "Die Zeit".
Als der amerikanische Erzbischof auf der Entlassung Murphys aus dem Priesterstand beharrte - auch unter Hinweis auf anhaltende Empörung bei den Vertretern katholischer Gehörloser - kam es den Angaben zufolge am 30. Mai 1998 zu einem Krisengipfel in Rom. In dem von der Glaubenskongregation verfertigten Protokolls des Treffens, bei dem Bertone den Vorsitz führte, heiße es: "Bezüglich der Möglichkeit eines kanonischen Prozesses wegen des Verbrechens der Belästigung in der Beichte lenkt der Sekretär die Aufmerksamkeit auf einige Probleme, die ein Verfahren aufwerfe".
Keine Entlassung
Bertone habe seine nach Rom gereisten
Bischofskollegen aus den Vereinigten Staaten gewarnt vor der "immanenten
Schwierigkeit, ein solches Verbrechen in einem Verfahren zu ahnden, dessen
Durchführung in strengster Geheimhaltung erfolgen muss". Der spätere
Kardinal habe überdies darauf verwiesen, "die Schwierigkeit, Beweise und
Zeugen beizubringen, ohne den Skandal zu vergrößern". Zusammenfassend habe
Bertone auf die Schwierigkeiten hingewiesen, "die durch eine Verfolgung
dieses Falles entstehen würden".
In einem internen Vermerk der Erzdiözese Milwaukee nach dem Krisengipfel heißt es: "Es wurde deutlich, dass die Kongregation uns nicht ermutigte mit irgendeiner förmlichen Entlassung (Murphys) fortzufahren." Unter dem Druck aus Rom teilte US-Erzbischof Weakland seinem vatikanischen Kollegen Bertone in einem ebenfalls als Faksimile dokumentierten Schreiben am 19. August 1998 mit: "Ich habe meinen Justiziarvikar angewiesen, das Verfahren förmlich zu beenden, das gegen Pater Murphy begonnen worden war."
Am 21. August 1998 starb Murphy im Alter von 72 Jahren. Aus dem Vatikan war jüngst darauf verwiesen worden, dass ein Kirchenprozess gegen den Sterbenskranken keinen Sinn mehr gemacht hätte und auch die US-Justiz kein Verfahren gegen Murphy eröffnet hatte.