Das Kirchenoberhaupt fürchtet, dass Europa "seine Seele verliert".
Papst Franziskus hat die EU aufgefordert, die Menschenwürde stärker ins Zentrum der europäischen Politik zu rücken. Europa laufe Gefahr, "seine Seele zu verlieren", warnte er. "Es bestehen noch immer zu viele Situationen, wo Menschen wie Objekte behandelt werden", sagte das Kirchenoberhaupt am Dienstag in seiner Rede vor den Europa-Abgeordneten in Straßburg.
Video: Papst Franziskus vor dem Europaparlament
Standing Ovations
Die Rede des Papstes wurde mit stehenden Ovationen aufgenommen. Dabei redete der Papst den EU-Parlamentariern 45 Minuten lang ins Gewissen, auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hörte der Rede zu. Der Papst habe "allen aus dem Herzen gesprochen", zeigte sich EU-Parlamentspräsident Martin Schulz anschließend dankbar gegenüber dem Heiligen Vater.
"Ich meine, dass es äußerst wichtig ist, eine Kultur der Menschenrechte zu vertiefen", sagte der Papst. Er ermutige die EU, zu den festen Überzeugungen der Gründungsväter zurückzukehren und Teilung zu überwinden. Im Mittelpunkt sei damals das Vertrauen auf einen mit Würde ausgestatteten Menschen gestanden.
Durch die Wirtschaftskrise sei die Einsamkeit von Alten und Jugendlichen verschärft worden. Mit der EU-Erweiterung sei das Misstrauen gegenüber den EU-Institutionen verstärkt worden. "Von mehreren Perspektiven aus gewinnt man den Eindruck von Müdigkeit und Alterung", sagte er im Hinblick auf den Zustand Europas.
"Wegwerfkultur"
Der Papst kritisierte insbesondere die vorherrschende "Wegwerfkultur" und den "Konsumismus". Die großen Ideale Europas schienen ihre Anziehungskraft verloren zu haben. "Der Mensch ist in Gefahr zu einem bloßen Räderwerk herabgewürdigt zu werden", mahnte der Papst.
"Europa hat es dringend nötig, sein Gesicht wieder zu entdecken, um im Geist seiner Gründungsväter in Frieden und Eintracht zu wachsen", sagte der Papst. Dabei müsse man ein Europa aufbauen, dass sich nicht nur um die Wirtschaft drehe, sondern um unveräußerliche Werte. Das Kirchenoberhaupt appellierte an die Abgeordneten, den "Gedanken eines verängstigten und in sich verkrümmten Europas fallen zu lassen" und stattdessen "das Europa, das den Himmel betrachtet", zu suchen. "Ich appelliere an Sie, dass Europa seine gute Seele wieder entdeckt."
Kritik an Vakuum
Der Papst kritisierte auch ein vorherrschendes Vakuum im Westen. "Es ist gerade die Gottvergessenheit und nicht seine Verherrlichung, die Gewalt erzeugt", sagte er. Europa sei eine Völkerfamilie, die durch Einheit und Verschiedenheit verbunden sei. Die EU müsse sich auf ihre Grundprinzipien von Solidarität und Subsidiarität besinnen. Dabei bezeichnete der Papst eine geeinte Familie als Fundament der Gesellschaft. "Ohne diese Festigkeit baut man letztlich auf Sand." In der Arbeitswelt sei ein angemessener sozialer Kontext notwendig, der nicht auf Ausbeutung beruhe.
Das Kirchenoberhaupt lobte den Einsatz der EU für Ökologie, jeder trage eine persönliche Verantwortung zur Bewahrung der Schöpfung. Das Denken sei zu oft von Herrschen, Manipulieren und Ausbeuten geleitet.
Der Papst mahnte insbesondere mehr Engagement für den Kampf gegen Hunger auf der Welt und für Migranten ein. "Es ist nicht tolerierbar, dass Millionen von Menschen in der Welt den Hungertod sterben, während jeden Tag Tonnen von Lebensmitteln von unseren Tischen weggeworfen werden." Gleichermaßen sei es notwendig, das Migrationsthema anzugehen. "Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird." Die Männer und Frauen, die auf Schiffen nach Europa gelangten bräuchten Aufnahme und Hilfe.
Erinnerungen an Johannes Paul II.
Schulz erinnerte an den Besuch von Papst Johannes Paul II. im Europaparlament vor 26 Jahren. Damals sei die Rede des Papstes zu einem Meilenstein zum Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung Europas geworden. Europa habe in den vergangenen Jahren eine dramatische Krise und einen Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen durchlebt, sagte Schulz. Dabei gebe es Parallelen zwischen der Kirche und der EU: Toleranz, Respekt, Solidarität und Frieden seien "Teile unseres gemeinsamen Auftrags". Gegenüber dem Papst sagte der Parlamentspräsident: "Ihre Worte bieten Orientierung in Zeiten der Orientierungslosigkeit."