Lokalaugenschein in Paris: Zwischen Angst und Wut. 4.000 Kandidaten treten heute an. Hohe Wahlbeteiligung beim ersten Wahlgang erwartet. Extreme Rechte in Frankreich vor Sieg.
Heute und am 7. Juli wählt Frankreich ein neues Parlament. Nach drei verrückten Wochen – seit Emmanuel Macron seinen waghalsigen Neuwahl–Poker gestartet hat – ist das Land in Alarmbereitschaft. Eine Stimmung, die oe24 auch in Paris überall beobachten kann. Le Pen–Partei könnte Premier stellen.
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Es ist als hätte ein Fieber die Stadt der Lichter und der Liebe befallen. Aber diesmal ist es nicht das Savoir-vivre oder die Vorfreude auf die Olympischen Spiele, die am 26. Juli in Paris starten, die die Menschen in Paris erglühen lässt, sondern nackte Angst.
„Erstmals seit Vichy könnten Rechtsradikale an die Macht kommen“
Furcht, dass erstmals seit der schändlichen Vichy–Regierung – jener französischen Regierung, die mit den Nazis kollaborierte während diese Paris besetzten – , wie sie sagen und man hier täglich auch in den TV–Diskussionen hören kann, nach der heute startenden Parlamentswahl in Frankreich „Rechtsradikale an die Macht kommen“.
Paris im völligen Ausnahmezustand – zwischen Angst und Wut
Angst, dass sich das Land mit einem möglichen Premierminister Jordan Bardella – der Kronprinz von Marine Le Pen – bis zur Unkenntlichkeit verändern könnte.
Am Tag des ersten Wahlgangs der französischen Parlamentswahlen liegt der Rassemblement national in allen Umfragen vorne.
Es wäre das erste Mal in der Geschichte des Nachkriegsfrankreich, dass die extreme Rechte Nummer eins bei Parlamentswahlen werden könnte. Neben Angst treibt aber auch die Wut die Temperatur der Pariser in die Höhe. Wut auf Emmanuel Macron, der ihnen in einem waghalsigen Poker am Abend der EU–Wahl diese Neuwahl überhaupt erst eingebrockt hat.
„Ich bin doch Französin, aber DIE sehen mich als Ausländerin“
„Ich habe Angst. Ich bin doch Französin. Meine Eltern sind Franzosen. Aber die sehen mich als Ausländerin an, weil ich schwarz bin“, sagt eine junge Frau unter Tränen.
In Paris selbst haben die „Rechtsradikalen“ – so wird Le Pens Partei in Frankreich gewertet – freilich keine Chance gut abzuschneiden.
Demo gegen Rassemblement National in Paris
„Ja, ich wähle Le Pen, weil ich nicht noch mehr Muslime will“
Aber selbst in Paris treffen wir einen bekennenden Le Pen Unterstützer. „Ja, ich wähle natürlich den Rassemblement national, so wie ich ihn bereits bei EU–Wahl gewählt hatte“, sagt der großgewachsene Mann mitten in einem gutbürgerlichen Bezirk in Paris zu oe24. Warum? „Weil Sozialisten und Gaullisten unser Land in die Knie gezwungen haben“. Er zählt die Terrorattentate der letzten Jahre auf und sagt dann aufgebracht: „Wir wollen nicht noch mehr Muslime haben“.
Extreme Wut auf „abgehobenen“ Macron
Nur 50, 60 Kilometer von Paris entfernt, in kleineren Ortschaften, ist das keine Minderheitsmeinung. Hier ist die Stimmung ebenso fiebrig wie im Südosten, im Norden Frankreichs, im Südwesten und der Côte d’Azur. Aber hier ist es die schummrige Vorfreude, dass „die Eliten in Paris weggeschwemmt werden, dass Jordan Bardella Premier“ werden könnte.
Hier dominiert vor allem die Wut auf Macron. Über die Neuwahlen ist man glücklich. Immerhin scheint Macron – einst als Hoffnungsträger und Brandmauer gegen die extreme Rechte und Le Pen gestartet – Dem Rassemblement National ungewollt die Macht zu übergeben.
Aber was macht die Menschen so wütend auf Macron? Es liegt wohl in seiner Persönlichkeit. Sie erklärt wohl am besten, wieso er völlig ohne Not – just als Le Pens Partei am 9. Juni über 31 Prozent schaffte – das Parlament auflöste, ohne auch nur vorher mit seinem Premier Gabriel Attal zu reden. Macron ist ein Spieler.
„Macron ist ein Brandstifter“ – diese Neuwahl war „verrückt“
Das war er bereits 2016/17 als er auf den Ruinen der einstigen großen Staatsparteien von Sozialdemokraten und Bürgerlichen seine neue Bewegung aufbaute. Jetzt ist er „zum Brandstifter“ geworden, konstatierte die große Qualitätszeitung Frankreichs, Le Monde, bereits am 10. Juni.
In Paris halten ihn viele einfach für „völlig abgehoben und selbstverliebt“. Und auch viele Pariser sagen: „Er ist ein Brandstifter, der Frankreich anzündet“.
Hat er in den historischen Gemäuern des Élysée–Palastes den Realitätssinn verloren? Macrons ursprüngliches Kalkül, dass sich Mitte Links und Rechts hinter ihm sammeln könnte, ging spektakulär schief. Die Bürgerlichen spalteten sich in ein Lager Pro Le Pen und contra Le Pen. Die Sozialisten schlossen sich hingegen zu einer neuen Volksfront mit Grünen, Kommunisten und den extremen Linken von Mélenchon. In Paris wird dieses Bündnis wohl klar die meisten Stimmen erhalten. Auch diese Wähler wirken fiebrig. In Paris weiß man aber, dass der Rest Frankreichs anders wählen dürfte.
„Frankreich ist krank“, sagt der alte Mann in Paris
„Frankreich ist krank“, sagt ein älterer Mann oe24 auf den Champs Élysées. Er ist traurig, dass „uns die Olympischen Spiele verdorben werden und die Jungen unsere Geschichte vergessen haben“. Er hofft, dass „zumindest im zweiten Wahlgang am 7. Juli wieder eine Brandmauer gegen die Rechtsradikalen entsteht und doch die Mitte gewinnt“. Aber er wirkt verzweifelt. Vielleicht, weil niemand zu wissen scheint, was gegen das Fieber hilft, das so viele seiner Landsleute befallen zu haben scheint.