Söldner werden nicht strafrechtlich verfolgt

Wagner-Chef Prigoschin geht straffrei nach Belarus

23.06.2023

Mitten in der Anfangsphase der ukrainischen Gegenoffensive ist ein Machtkampf zwischen russischer Militärführung und der Söldnertruppe Wagner eskaliert.  

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© AFP/APA
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Moskau. Mitten in seinem chaotischen Krieg gegen die Ukraine muss sich Russlands Präsident Wladimir Putin nun auch im eigenen Land einem beispiellosen Machtkampf stellen. Nach mehr als 23 Jahren an der Macht spricht er von "Verrat" und einem "Stoß in den Rücken" durch den Aufstand der Privatarmee Wagner von Jewgeni Prigoschin.

Putin nannte in einer Fernsehansprache am Samstag keine Namen. Auch so weiß jeder, wer gemeint ist: der Ex-Vertraute Prigoschin, dessen Söldner einst in Afrika, Syrien und eben auch in der Ukraine wichtige Erfolge für den Kreml verbuchten. Diese Zeiten dürften vorbei sein.

Der mit einer vollwertigen Armee samt Panzern und Flugzeugen ausgestattete Prigoschin war nach langer, scharfer Kritik an der Militärführung offen zum Kampf übergegangen. Mit seinen Leuten hatte er nach eigenen Angaben Militäreinrichtungen und einen Flugplatz in der Millionenstadt Rostow am Don besetzt. Sein Ziel sei Moskau, sagte er selbstbewusst. Aber auch öffentlich brach er nun erstmals mit Putin, dem er unlängst erst noch die Treue schwor und "meinen Oberbefehlshaber" nannte.

Wagner-Söldner marschierten Richtung Moskau 

Aufständische Söldner der Wagner-Truppe waren nach Angaben des Regionalgouverneurs am Samstag bis in die russische Region Lipezk rund 400 Kilometer südlich von Moskau vorgedrungen. Wagner-Söldner waren dabei, "sich auf dem Gebiet der Region Lipezk zu bewegen", teilte Regionalgouverneur Igor Artamonow im Online-Dienst Telegram mit.

Artamonow rief am Samstag die Bürger von Lipezk auf, "ihre Häuser nicht zu verlassen oder irgendwelche Fahrten egal mit welchen Verkehrsmitteln zu machen". Die Erklärung des Regionalgouverneurs zeigte das Vorrücken der Wagner-Truppen in Richtung der russischen Hauptstadt Moskau.

Autobahn M4 im Süden Moskaus wurde gesichert

Russische Soldaten befestigten eine Stellung mit Maschinengewehren im Süden Moskaus, wie von der Zeitung "Wedomosti" veröffentlichte Fotos zeigen. Auf den Bildern ist auch zu sehen, wie sich schwerbewaffnete Polizisten an einem Ort an der Autobahn M4 versammelten. Auf der M4 bewegten sich Wagner-Söldner in Richtung Moskau. Die Autobahn führt von Süden in die russische Hauptstadt.

Moskau bereitete sich angesichts des Vormarsches von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin auf etwaige militärische Auseinandersetzungen in der Stadt vor.

Prigoschin beorderte Wagner-Truppen zurück in Stützpunkte

Der russische Militärunternehmer Jewgeni Prigoschin stoppte nach Verhandlungen den Marsch auf Moskau und beorderte seine Wagner-Truppen zurück in ihre Stützpunkte. Damit wolle er Blutvergießen vermeiden, heißt in einer Audio-Botschaft von Prigoschin am Samstag. "Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück", sagte er in einer von seinem Pressedienst auf Telegram veröffentlichten Sprachnachricht.

Nach den Angaben des belarussischen Präsidialbüros hatte sich Prigoschin zuvor bereit erklärt, den Vormarsch seiner Kämpfer in Russland zu stoppen. Er sei zu einer Deeskalation der Situation bereit, erklärt das Büro auf seinem offiziellen Kanal beim Kurznachrichtendienst Telegram.

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko habe mit dem Einverständnis von seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin mit Prigoschin gesprochen. Es liege eine Vereinbarung über die Sicherheit der Wagner-Kämpfer auf dem Tisch.

Wagner-Chef und Kämpfer werden nicht strafrechtlich verfolgt 

Das russisches Präsidialamt hat eine Vereinbarung mit Söldnerchef Jewgeni Prigoschin bestätigt. Es sei ein Abkommen getroffen worden, um weitere Verluste zu vermeiden, teilte der Kreml am Samstag mit. Im Gegenzug für die Beendigung ihres Aufstands werden der Chef der russischen Söldner-Truppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, und seine Kämpfer nach Angaben des Kremls nicht strafrechtlich verfolgt.

Wagner-Chef Prigoschin geht straffrei nach Belarus

Nach dem von Minsk vermittelten Rückzug der Wagner-Kämpfer werde Prigoschin sich nach Belarus begeben und müsse kein Strafverfahren in Russland fürchten, teilte der Kreml am Samstagabend mit. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort sei unbekannt. Zugleich betonte der Kreml, der Aufstand der Wagner-Truppe beeinträchtige "keinesfalls" die russische Offensive in der Ukraine.

Offenbar Evakuierungen in Moskau

In der russischen Hauptstadt sind mehrere Bombendrohungen eingegangen. Wie die BBC berichtet, wurden das Puschkin-Museum, die Tretjakow-Galerie und das GES-2-Museum evakuiert, ebenso zwei Einkaufszentren.

"Die Situation ist schwierig"

Die Entscheidung, den Montag in Moskau zum arbeitsfreien Tag zu erklären sei von ihm im operativen Stab gefällt worden, um Risken zu minimieren, informierte Bürgermeister Sobjanin am späten Samstagnachmittag auf Telegram. "Die Situation ist schwierig", schrieb er.

Ausgenommen von der Entscheidung sind der staatliche Strukturen, kommunale Dienste sowie Firmen im Schichtbetrieb und des militärisch-industrieller Komplexes, die am Montag regulär arbeiten sollen. "Ich ersuche, maximal von Fahrten in der Stadt abzusehen", forderte Sobjanin. Möglich seien Straßensperren in manchen Bezirken sowie auf manchen Straßen.

Putin bombardiert Öl-Depots der Wagner-Gruppe

Aufnahmen zeigen Angriffe in der Region Woronesch, wonach Berichten zufolge Öl-Depots der Söldner-Truppe von der russischen Luftwaffe attackiert worden sind.

"Nächsten 48 Stunden werden entscheiden"

Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak meinte: "Die nächsten 48 Stunden werden über den neuen Status von Russland entscheiden. Möglich seien ein "ausgewachsener Bürgerkrieg", ein "ausgehandelter Machtübergang" oder auch eine "vorübergehende Atempause vor der nächsten Phase des Sturzes des Putin-Regimes", schrieb Podoljak am Samstag auf Twitter.

Der russische Präsident Wladimir Putin spricht in einer Fernsehansprache von Verrat und einem "Stich in den Rücken" mit Blick auf das Vorgehen des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin. Wer an der Meuterei teilgenommen habe, werde bestraft, jeder, der die Waffen gegen die Armee erhoben habe, sei ein Verräter. "Wir werden siegen und stärker werden", sagte Putin. Die Lage in Rostow am Don sei schwierig.

Prigoschin: Das ist kein Militärputsch 

Prigoschin sagte, seine Aktionen behinderten nicht Russlands "militärische Spezialoperation" in der Ukraine. Zuvor hatte er schon betont, seine Aktion sei kein Militärputsch.

Russland soll Wagner-Söldner bombardiert haben 

Prigoschin hatte zuvor den Vorwurf erhoben, Verteidigungsminister Sergej Schoigu habe Raketenangriffe auf Lager der Wagner-Söldner angeordnet, bei denen zahlreiche Kämpfer getötet worden seien. "Wir sind 25.000", warnte Prigoschin und rief die russische Bevölkerung auf, sich seinen Truppen anzuschließen. "Das Böse, das die Militärführung des Landes anrichtet, muss gestoppt werden."

Der Wagner-Chef hatte zuvor bereits den Darstellungen des Kremls widersprochen, die ukrainische Gegenoffensive sei fehlgeschlagen. "Die russische Armee zieht sich in den Gebieten von Saporischschja und Cherson zurück, die ukrainischen Truppen stoßen vor", sagte Prigoschin in einem Online-Video. Das Gleiche passiere in Bachmut.

US-Regierung beobachtet Entwicklungen 

Die US-Regierung beobachtete die Entwicklungen nach Angaben eines Sprechers aufmerksam. "Wir verfolgen die Lage und werden uns mit Alliierten und Partnern über diese Entwicklungen abstimmen", sagte ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Präsident Joe Biden sei informiert. Die rivalisierenden russischen Truppen seien dabei, "sich im Kampf um Macht und Geld gegenseitig zu zerfleischen", kommentierte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow.

Die zu einem beträchtlichen Teil aus russischen Gefängnissen rekrutierten Wagner-Söldner spielten in den vergangenen Monaten vor allem bei der langwierigen und verlustreichen Einnahme der Stadt Bachmut in der ostukrainischen Region eine wichtige Rolle. Gleichzeitig entwickelte sich Söldner-Chef Prigoschin - frustriert über Nachschubprobleme und nach seinen Angaben mangelnde Unterstützung durch Moskau - zu einem der vehementesten Kritiker der militärischen Führung Russlands. Immer wieder attackierte er Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.

Zuletzt unterlief er sogar Putins Begründung für die Offensive im Nachbarland: "Weshalb hat die militärische Spezialoperation angefangen?", fragte Prigoschin und antwortete sich selbst: "Der Krieg wurde für die Selbstdarstellung eines Haufens Bastarde gebraucht."

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