In Polen wird nach dem Flugzeugabsturz von Lech Kaczynski ein neuer Staatschef gewählt. Die Chancen seines Zwillingsbruder sind gegeben.
Am Sonntag wählen 30,5 Millionen Polen einen Nachfolger für den am 10. April bei einer Flugzeugkatastrophe im russischen Smolensk tragisch verstorbenen Präsidenten Lech Kaczynski. Um das wichtigste Staatsamt bewerben sich zehn Kandidaten. Der wahre Kampf wird sich aber zwischen dem Parlamentspräsidenten Bronislaw Komorowski aus der rechtsliberalen Regierungspartei PO (Bürgerplattform) und dem Chef der rechtskonservativen Oppositionspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) Jaroslaw Kaczynski, dem Zwillingsbruder des tödlich verunglückten Präsidenten, abspielen. Sollte am Sonntag keiner von ihnen die absolute Mehrheit der Stimmen erringen, fällt die Entscheidung in einer Stichwahl am 4. Juli.
Komorowski in Umfragen vorn
Der 58-jährige Bronislaw Maria Karol
Graf Komorowski, der laut der polnischen Verfassung nach dem Tod des
Staatsoberhauptes die Pflichten des Präsidenten erfüllt, gilt Umfragen
zufolge als Favorit. Ende März, noch vor dem Flugzeugunglück, setzte er sich
in einer innerparteilichen Vorwahl gegen Außenminister Radoslaw Sikorski
durch. Der Ministerpräsident und PO-Chef Donald Tusk, der jahrelang als
sicherer Präsidentschaftskandidat seiner Partei gegolten hatte, hatte zuvor
auf eine Kandidatur verzichtet. Als Staatsoberhaupt würde Komorowski laut
Beobachtern loyal gegenüber Tusk bleiben. Das gebe Hoffnung, dass die
konfliktreiche, schwierige "Kohabitation" der Regierung mit dem Präsidenten
in der Amtszeit von Lech Kaczynski der Vergangenheit angehört, meinen sie.
Hohe Unterstützung für Komorowski ergibt sich aber eher aus der enormen
Popularität seiner Partei PO. Sogar viele Anhänger der Liberalen geben zu,
dass sie von der Kandidatur nicht begeistert sind.
Profitiert Kaczynski vom Tod des Bruders?
Bei der Wahl muss
Komorowski dem charismatischen Anführer der Konservativen die Stirn bieten.
Der 61-jährige Jaroslaw Kaczynski, der immer von seiner scharfen Rhetorik
bekannt war, bemühte sich seit dem Flugzeugunglück mit Erfolg um einen
Imagewandel. Im Wahlkampf deutete er an, dass ihn das Unglück besonnener und
versöhnlicher gemacht habe. Während der Hochwasserkatastrophe, die Polen
seit Anfang Mai wochenlang gequält hatte, rief er immer wieder zu
Solidarität und Einigkeit auf. Selbst über Deutschland und Russland äußerte
er sich bewusst wohlwollend. Seine Gegner werfen ihm vor, diese Wandlung aus
wahltaktischem Kalkül nur vorzutäuschen.
Nach der neuesten Umfrage des Instituts MillwardBrown SMG/KRC für den Fernsehsender TVN24 wird den ersten Urnengang Komorowski mit 44 Prozent der Stimmen gewinnen. Den PiS-Kandidaten Kaczynski möchten 29 Prozent der Befragten wählen. Dem Vorsitzenden des Bündnisses der Demokratischen Linken (SLD), Grzegorz Napieralski, werden derzeit 13 Prozent vorhergesagt, Janusz Korwin-Mikke, der Chef der liberalen Partei "Freiheit und Rechtssicherheit" sollte drei Prozent bekommen. Weiters nehmen noch an der Wahl teil: der Vizepremier, Wirtschaftsminister und Vorsitzende der Bauernpartei PSL, Waldemar Pawlak, und der unabhängige, aber von der Demokratischen Partei SD unterstützte Kandidat Andrzej Olechowski (beide zwei Prozent), der Vorsitzende der radikalen Bauernpartei "Samoobrona" (Selbstverteidigung), Andrzej Lepper und der Vorsitzende der Partei "Rechte Polen" (PP), Marek Jurek (beide ein Prozent) sowie zwei Kandidaten, deren Unterstützung aktuell unter einem Prozent liegt. Dies sind der Chef der "Kämpfenden Solidarität", Kornel Morawiecki, und der Chef der linken "Polnischen Arbeitspartei" (PPP) und der Gewerkschaft "Sierpien 80" ("August 80"), Boguslaw Zietek.
Der Urnengang wurde wegen des Absturzes der Regierungsmaschine bei Smolensk um fast ein halbes Jahr vorgezogen. Ursprünglich sollte die Präsidentenwahl erst im Herbst stattfinden. Bei dem Flugzeugunglück am 10. April waren insgesamt 96 Menschen ums Leben gekommen, darunter der Präsident und seine Frau Maria, sowie zahlreiche führende Militärs, Politiker und Leiter bedeutender polnischer Institutionen. Die Ursachen des Absturzes werden von der zuständigen Staatsanwaltschaft in Russland und einer internationalen Luftfahrtkommission untersucht. Die hochrangige Delegation an Bord der Tupolew-154M war zu Gedenkfeierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Massakers von Katyn unterwegs, wo im Zweiten Weltkrieg auf Befehl Stalins über 20.000 polnische Offiziere und Intellektuelle kaltblütig erschossen wurden.
Die Wahllokale bleiben am Sonntag bis 20.00 Uhr MESZ geöffnet. Bis dahin gilt die gesetzlich geregelte Wahlruhe, die am Freitag um Mitternacht begonnen hat. Die Wahl wird auch im Ausland durchgeführt. International wurden 253 Wahllokale eingerichtet - die meisten in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten, aber auch in Afghanistan, wo polnische Soldaten stationiert sind. In Österreich kann in der polnischen Botschaft in Wien gewählt werden.