Türkei
Proteste in Istanbul gehen weiter
04.06.2013
Protest gegen Regierung am Taksim-Platz fortgesetzt.
Die türkische Regierung hat sich am fünften Tag der landesweiten Protestwelle erstmals um Deeskalation bemüht. Dennoch fanden sich am Dienstagabend erneut tausende Demonsranten Vizeregierungschef Bülent Arinc entschuldigte sich am Dienstag nach einem Treffen mit Staatspräsident Abdullah Gül für die Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten. Österreichs Außenminister Michael Spindelegger (V) warnte Ankara vor einer "Belastungsprobe" mit der EU.
An diesem Mittwoch will Arinc mit Vertretern der Demonstranten zusammenkommen, wie der Sender CNN Türk berichtete. In der Nacht auf Dienstag war bei den Protesten gegen den islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ein zweiter Demonstrant getötet worden - diesmal in Antakya im Süden des Landes. Aus Protest gegen die Regierung rief der Gewerkschaftsbund KESK einen Streik aus.
Einen Tag nach Erdogans Abreise zu einer mehrtägigen Nordafrikareise räumte sein Stellvertreter Bülent Arinc ein, dass die Proteste gegen ein umstrittenes Bauprojekt im Gezi-Park in Istanbul legitim gewesen seien. "In diesem ersten Fall war die übertriebene Gewalt gegen Bürger, die aus Sensibilität für die Umwelt handeln, falsch und unrecht. Bei ihnen entschuldige ich mich." Dies gelte aber nicht für diejenigen, die Zerstörungen anrichteten. Die Polizei hatte am Freitag ein Protestlager in dem Park brutal geräumt und damit die Demonstrationen ausgelöst.
Inzwischen richten sich die Demonstranten vor allem gegen den als immer autoritärer empfundenen Kurs Erdogans, der Extremisten für die Demonstrationen verantwortlich gemacht hatte. Vize-Regierungschef Arinc warnte, die Protestierer sollten sich nicht mit illegalen Gruppen einlassen.
In Istanbul kam es auch in der vierten Nacht in Folge zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Wie Aktivisten und türkische Medien berichteten, ging die Polizei im Stadtteil Besiktas am späten Montagabend erneut mit Tränengas gegen Erdogan-Gegner vor. Dabei gab es wieder Verletzte. Die Auseinandersetzungen waren aber nicht mehr so schwer wie in der Nacht zuvor. Auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul hielten Regierungsgegner am Dienstag weiter die Stellung. Am Abend waren wieder tausende Menschen versammelt.
Nach Angaben von Innenminister Muammer Güler kam es seit Beginn der Protestwelle in 77 der 81 Provinzen zu Protestaktionen. Dabei seien 280 Geschäfte, 6 öffentliche Gebäude, 103 Polizeifahrzeuge, 207 Privatwagen, eine Privatwohnung, ein Polizei- und elf Gebäude der Regierungspartei AKP beschädigt worden. Es müsse mit einem Schaden von mehr als 70 Millionen Lira (rund 30 Millionen Euro) gerechnet werden, sagte der Minister in einer Parlamentsdebatte in Ankara.
Der in Antakya getötete Demonstrant war Mitglied der Jugendorganisation der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Ein CHP-Politiker sagte, der Mann sei von einer Gasgranate am Kopf getroffen worden. Erst am Vortag war bestätigt worden, dass ein Demonstrant in Istanbul ums Leben kam, als ein Autofahrer in eine Gruppe von Demonstranten raste. Seit Beginn der Proteste sind nach Angaben eines Ärzteverbandes mehr als 2300 Menschen verletzt worden.
Mitglieder des Gewerkschaftsbundes KESK - Dachverband für den öffentlichen Dienst - legten vom Mittag an die Arbeit nieder. Die Mitglieder sollten für eine demokratische Türkei eintreten und damit gegen den "Faschismus" der islamisch-konservativen Regierungspartei demonstrieren, hieß es auf einer KESK-Webseite. Eine weitere Gewerkschaft wollte sich dem Protest anschließen.
Deutliche Kritik an Erdogan und dem Vorgehen der türkischen Exekutive gegen die Demonstranten übte am Dienstag Außenminister Spindelegger. Die Reaktion auf die friedlichen Proteste in Istanbul und anderen Orten "werfe kein gutes Licht auf die Regierung", erklärt der Vizekanzler in der Tageszeitung "Die Presse" (Mittwochausgabe).
Spindelegger riet der Türkei von einer "Belastungsprobe in den Beziehungen zur EU" ab. Die türkische Regierung müsse "Bürgerrechte, Demonstrationsfreiheit und Meinungsfreiheit unter allen Umständen wahren". Mit ihrem "unverhältnismäßigen und besorgniserregenden Vorgehen" schütte die türkische Polizei noch Öl ins Feuer der Proteste. Spindelegger: "Das zeigt, dass in den Demonstrationen eine breitere soziale Unzufriedenheit zum Ausdruck kommt. Die Regierung sollte daher die Anliegen ernst nehmen und den Dialog suchen."
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