Alles, was den Briten heilig ist, wird durch den EU-Austritt infrage gestellt. So könnte es weitergehen.
Allzu lange ist es nicht mehr hin, bis Großbritannien im März 2019 die EU verlassen soll. Das bisher noch nie da gewesene Vorhaben wirft viele Fragen auf - nicht zuletzt für das Land selbst, wie die Journalistin Tessa Szyszkowitz in ihrem neuen Buch "Echte Engländer. Britannien und der Brexit" aufzeigt. Sie beschreibt darin auch ein Land, das seine neue Rolle wohl erst finden muss.
"Alles, was den Briten heilig ist, wird durch den EU-Austritt infrage gestellt. Demokratie, Parlament, Toleranz, selbst die sprichwörtliche Gelassenheit. Die alten Sicherheiten gelten nicht mehr. Das EU-Votum zeigte 2016, dass die Briten keine klaren Vorstellungen mehr haben, wer sie eigentlich sind", hält Szyszkowitz, die unter anderem für "profil" und "Falter" aus London berichtet, fest. Und: "Britannien nach dem EU-Austritt wird sich mit sich selbst beschäftigen müssen, eine Nabelschau, die durchaus schmerzhaft sein könnte."
Empire 2.00
Wenn die Zukunft des Landes nicht mehr in der Europäischen Union liegen soll, welche Alternativen gibt es dann für eines der bisherigen Schwergewichte der Gemeinschaft anderswo? Die Journalistin führt aus, welche Chancen und welche Schwierigkeiten mögliche neue Wege, die das Vereinigte Königreich gehen könnte, mit sich bringen könnten.
Etwa ein "Empire 2.00" - wobei sich das Land bisher kaum mit seiner Kolonialgeschichte und ihren Schattenseiten auseinandergesetzt habe: "Das erste Empire basierte auf der Idee, die Welt jenseits der britischen Inseln zu erobern, den unterentwickelten Völkern Zivilisation zu bringen, den Profit aus den Kolonien nach Hause zu bringen und gut davon zu leben. Ein etwas altmodisches Konzept, möchte man meinen. Die ausgebeuteten Nationen des britischen Empires wollen naturgemäß keine Neuauflage." Wirtschaftlich betrachtet sei ein Wiederaufleben des Empire "auch nicht gerade eine Wunderwaffe": "Die EU bekommt heute 48 Prozent der britischen Exporte, der Commonwealth nur 9,5 Prozent. Im Handel zählt Geografie mehr als Geschichte."
Während das "boomende Indien", das für seine Bürger gerne leichter Visa für den Westen bekäme, der ehemaligen Kolonialmacht wohl keinen einfachen Deal anbieten werde, ist aus Szyszkowitz' Sicht ein bilaterales Handelsabkommen mit Australien, das großen Wert auf enge Beziehungen zu Großbritannien lege, "eines der wirklich realistischen Projekte der Zeit nach dem EU-Austritt". Zu bedenken sei jedoch, "dass vonseiten der Australier das Handelsvolumen mit den Briten sehr viel kleiner ist als mit den Chinesen, den Japanern, den USA, Korea, Singapur und Neuseeland. Und Deutschland kommt nach Großbritannien, das auf Platz sieben liegt, bereits auf Platz zehn."
Die Hoffnung wiederum, die Europäische Union durch eine engere Vernetzung mit den Vereinigten Staaten zu ersetzen, scheine bereits im Vorfeld des britischen Austritts "an (Donald) Trumps Vorstellungen von internationaler Handelspolitik zu zerschellen", schreibt die Autorin. "Statt engerer politischer Beziehungen mit dem US-Präsidenten finden sich die Briten zudem immer öfter im Einklang mit den Europäern gegen die irrwitzigen Alleingänge des Amerikaners: Der aufgekündigte Iran-Deal, die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem und der Ausstieg aus dem Kyoto-Klimaabkommen haben drastisch vor Augen geführt, dass die gemeinsamen Werte der Briten eher auf dem europäischen Kontinent zu finden sind als jenseits des Atlantiks. Die gerühmten besonderen Beziehungen zwischen Briten und Amerikanern stecken in einer tiefen Krise."
Als eine mögliche Hürde im Hinblick auf ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und den USA nennt Szyszkowitz die hohen Standards für Lebensmittel, die in der EU gelten. "Sich von der EU zu entfernen und den USA anzunähern ist an sich kein Problem. Die Briten müssen nur ihre hohen Ansprüche an Lebensmittelsicherheit aufgeben", was sich dann freilich auch auf ihren Handel mit der EU auswirken würde: "Je weiter sich Großbritannien von den EU-Standards entfernt, um so schwieriger wird der Handel mit Lebensmitteln zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Handelsblock jenseits des Kanals." Es ist also eine Frage der Prioritäten, wobei in einer von der Autorin zitierten Umfrage aus dem Frühjahr drei Viertel der befragten Briten keinesfalls die hohen Standards für Nahrungsmittel aufgeben wollten, auch wenn es dann kein Handelsabkommen mit den USA geben könnte.
Als Option einer künftigen internationalen Zusammenarbeit greift Szyszkowitz auch "E3" heraus, das für die bevölkerungsstärksten (derzeitigen) EU-Mitglieder Deutschland, Frankreich und Großbritannien steht, die bei konkreten politischen Projekten wie den Atomverhandlungen mit dem Iran gemeinsam gearbeitet haben. Das scheine "ein erfolgversprechendes Modul" für die Zeit nach dem Brexit zu sein. Allerdings sei anzunehmen, dass andere EU-Staaten kein Interesse daran haben dürften, dass "E3" zu einem offiziellen Forum aufgebaut werde, "in dem sich zwei EU-Mitglieder mit einem Nicht-EU-Mitglied über die wichtigsten außenpolitischen Projekte abstimmen", gibt die Autorin zu bedenken. Auch würden, sollte sich Großbritannien künftig statt auf EU-Ebene unter den einzelnen Staaten Partner für Kooperationen suchen, die Strukturen der Union indirekt geschwächt.
"Echte Engländer"
"Echte Engländer" befasst sich aber nicht nur mit möglichen Zukunftsszenarien nach dem Brexit, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf unterschiedliche Facetten des heutigen Vereinigten Königreichs, mit Fokus auf den dominanten Landesteil England. Eingegangen wird in dem in 14 Kapitel untergliederten, kurzweiligen Buch nicht nur auf das EU-Referendum vom Juni 2016 und mögliche Gründe für das Ja zum Austritt, sondern auch auf Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit in der britischen Politik und Gesellschaft, die handelnden Personen sowie historische Hintergründe.
Seit dem Maastricht-Vertrag von 1992 habe sich unter den Briten eine zunehmende Entfremdung von den Zielen der EU eingestellt, schreibt Szyszkowitz in ihrem Abschlusskapitel. "So kam es zum EU-Austritt und deshalb steht die Zukunft Britanniens in den Sternen. Auch die unmittelbare. Denn die Realität kann nicht mit den Wünschen abgeglichen werden. Man kann nicht aus der EU, dem Binnenmarkt und der Zollunion einfach so austreten. Es gefährdet den Frieden in Nordirland, es kompliziert die Einheit des Vereinigten Königreichs", resümiert die Journalistin. An Positivem könnten die Briten zwar "die Trennungseuphorie dazu nutzen, längst notwendige Reformen in der Ausbildung für Handwerker und Lehrlinge, in der Bürokratie - etwa eine generelle Meldepflicht - und politische Reformen für die einzelnen Institutionen des Vereinigten Königreichs - Stichwort: Verfassung und englisches Parlament - durchzusetzen. All das wäre allerdings auch möglich gewesen, ohne aus der EU auszutreten."
Die genaue künftige Ausrichtung des Landes erscheint jedenfalls rund ein halbes Jahr vor dem geplanten Abschied aus der EU noch recht ungewiss: "Sollten die Briten Ernst machen und den Austritt aus der EU vollziehen, dann wird die Brexitannia aufs freie Meer hinaussegeln. Untergehen wird die alte Fregatte nicht, doch ein Zickzackkurs ist wahrscheinlich. Little England und Global Britain werden um den Kurs streiten, den ihr Schiff nehmen soll."