Unfassbar!
So ließ die Polizei den Killer-Nazi entkommen
12.10.2019Neonazi Stephan B. blieb zwischen dem ersten und zweiten Mord fast eine Viertelstunde unbehelligt.
Halle an der Saale. Es ist kaum zu glauben, aber der Killer-Nazi Stephan B. blieb zwischen seinem ersten und zweiten Mord fast eine Viertelstunde unbehelligt. Zuerst ermordete er eine Frau vor der Synagoge und erschoss in dieser Zeit ein weiteres Opfer in einem Kebap-Laden.
Erst danach wird er erstmals von der Polizei gestellt. Dann kommt es zu einer kurzen Schießerei. B. entkommt, kann erst nach über einer Stunde gestellt werden. In der Zwischenzeit verletzt er zwei weitere Menschen schwer.
Der erste Notruf ging um 12.04 Uhr bei der Polizei ein. Er kam aus der Synagoge, meldete einen terroristischen Anschlag. Stephan B. hatte da bereits Passantin Jana L. (40) erschossen, sie lag vor der Synagoge auf der Straße. Erst sieben Minuten später kam der erste Streifenwagen. Da war der Killer schon im 500 Meter entfernten Kebap-Laden.
Dort eröffnete B. das Feuer auf die Beamten, die schossen zurück und verwundeten den Neonazi am Hals. Rainer Wendt (62), Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft sagt dazu zu "Bild": "Die Streifenpolizisten haben nach dem Täter gesucht, die Straßen gesperrt, nicht auf Verstärkung oder ein Sondereinsatzkommando gewartet, und haben den Täter ja auch angeschossen." Ihnen sei kein Vorwurf zu machen.
Polizei wusste nicht wo Killer-Nazi ist
Unfassbar: Trotz seiner Verwundung entkommt B., verlässt Halle.
Über eine Stunde lang wusste die Polizei nicht, wo B. ist! Um 13.38 Uhr raste er dann in einem gestohlenen Taxi in eine Baustelle auf der B 9, krachte gegen einen Lkw oder den Straßenrand. Zeugen berichteten in "Bild", die Polizei hätte dem Neonazi dort mithilfe eines Lkw-Fahrers gestoppt.
Nach dem Mord im Döner-Imbiss setzt sich B. in seinen Golf. Nach wenigen Metern taucht ein Polizeiwagen vor ihm auf. Er hält an, steigt aus und eröffnet sofort das Feuer. Insgesamt gibt der Neonazi vier Schüsse mit einem selbst gebauten Schrotgewehr ab.
Dann will er einen Sprengsatz zünden, findet aber kein Feuerzeug in seinen Taschen. Er versucht, zurück in den Wagen zu steigen, um eins zu holen. In diesem Moment feuern die Polizisten zweimal auf B., eine Kugel verwundet ihn am Hals. Der Killer setzt sich wieder ans Steuer und flieht.
Polizei schafft es nicht Verfolgung aufzunehmen
Nach der Schießerei dreht mit seinem Auto B. um. Die Polizei schafft es aber nicht, die Verfolgung aufzunehmen. Dann fährt er in die Straße zurück, aus der er kam, in Richtung Synagoge. Bevor er sie erreicht, biegt einmal rechts und gleich wieder links in Seitenstraßen ab. Dann fährt er auf eine Hauptstraße (Paracelsusstraße) und schafft es, die Stadt zu verlassen.
Auf seiner Flucht fährt B. an der Ausfahrt Weißenfels von der A9 ab. Nach einer Umleitung will er an einer Baustelle auf die B 91. Er biegt rechts ab, kollidiert mit einem Lkw. Laut Augenzeugen hatten sich Einsatzkräfte in der Böschung neben der Straße versteckt und stürmen das Taxi, das er während seiner Flucht gestohlen hatte. Unklar ist, ob der Lkw bewusst die Straße, die an dieser Stelle nur einspurig ist, blockierte oder zufällig dort stand.
B. gesteht antisemitisches Motiv
Nach dem Terroranschlag von Halle hat der 27-jährige Stephan B. die Bluttat gestanden und ein rechtsextremistisches, antisemitisches Motiv bestätigt. Der Mann habe mehrere Stunden beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs am Donnerstagabend ausgesagt, sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft der Deutsche Presse-Agentur am Freitag in Karlsruhe.
B. sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl legt ihm zweifachen Mord und siebenfachen Mordversuch zur Last. Nach Einschätzung der Ermittler wollte er ein Massaker anrichten und Nachahmer zu ähnlichen Taten anstiften.
B. war am Mittwoch festgenommen worden, nachdem vor einer Synagoge im ostdeutschen Halle eine 40 Jahre alte Frau und in einem nahe gelegenen Döner-Imbiss ein 20-jähriger Mann erschossen worden waren. Zuvor hatte der Täter vergeblich versucht, die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen. Zu dem Zeitpunkt hielten sich 51 Menschen in dem Gotteshaus auf und feierten das wichtigste jüdische Fest, Yom Kippur.
Selbst erzeugte Waffen des Schützen
Die Waffen des Attentäters von Halle versagten immer wieder. Auf seinem Video, das Stephan B. live ins Internet streamte, hörte man ihn immer wieder laut fluchen. "Was"n falsch? Meine Fresse, Mann, lad"! Ach, Scheiße." Hätten sich vor allem die beiden selbst gebauten Maschinenpistolen nicht immer wieder verhakt, wären bei der Bluttat von Halle mit hoher Wahrscheinlichkeit noch viel mehr Opfer zu beklagen gewesen.
In seinem Manifest, das der Täter auf der Website Kohlchan - dem deutschen Pendant der umstrittenen US-Plattform 8chan - hochgeladen hatte, beschrieb er detailliert sein Waffenarsenal. Darunter befanden sich zwei Maschinenpistolen nach Entwürfen des britischen Waffenaktivisten Philip Luty, der damit für den freien Besitz von Feuerwaffen demonstrieren wollte.
Während die "Luty SMG 9mm Parabellum" des Attentäters aus Halle komplett aus Metallteilen bestand, war die zweite Luty-Maschinenpistole auch mit Plastikteilen aus dem 3D-Drucker gebaut worden. Einen Drucker haben die Fahnder in den Wohnräumen von Stephan B. entdeckt. Der Täter setzte aber nicht nur auf Hightech, sondern auch auf ganz einfache Technik: Zu seiner Ausstattung gehörte eine sogenannte Slam-Bang-Shotgun, die im Kern nur aus zwei Rohren und einem simplen Auslöser besteht.
Waffen aus 3D-Drucker seit Jahren ein Thema
Waffen aus dem 3D-Drucker sind seit Jahren ein Thema: 2013 stellte der Texaner Cody Wilson die Pläne für eine Waffe aus dem 3D-Drucker ins Netz. Der Waffennarr und Aktivist wurde dabei von der Waffenlobby-Organisation Second Amendment Foundation unterstützt. Seine einschüssige Plastikpistole Liberator (Befreier) löste weltweit große Befürchtungen aus: Nicht nur, weil sich mit den digitalen Bauplänen quasi jeder eine Waffe beschaffen kann, sondern auch, weil die Pistole aus Kunststoff von klassischen Metalldetektoren an Sicherheitsschleusen nicht erkannt wird.
Die 3D-Drucker-Technik macht es deutlich einfacher, Waffen selbst zu bauen. Im Vergleich zu den Selbstbau-Waffen aus Blech und Stahl können Waffen aus dem 3D-Drucker auch ohne handwerkliches Geschick gebaut werden. Die Maschinen "drucken" die Waffenteile im Schichtdruckverfahren aus Kunststoff auf Zehntel- bis Hundertstelmillimeter genau, können also viel präziser arbeiten als Laien, die nicht über eine klassische Büchsenmacher-Ausbildung verfügen.
Bisher konnten die verwendeten Kunststoffe in der Regel nicht dem hohen Druck widerstehen, der beim Abfeuern einer Patrone entsteht. Deshalb setzte die Waffenbauerszene auf Hybridwaffen, die Metallteile für Lauf und Kammer mit Plastikteilen für das Magazin oder den Schaft der Waffe kombinieren. Auch bei der Plastic Luty des Halle-Attentäters handelte es sich um ein Hybrid-Modell aus Plastik und Metall.
Komplexere Waffen
Es ist allerdings absehbar, dass künftig auch komplexere Waffen komplett im 3D-Drucker gefertigt werden können. Die verwendeten Kunststoffe widerstehen immer höheren Temperaturen und halten auch größerem Druck stand als frühere Generationen. Baupläne und 3D-Druckvorlagen für die 3D-Drucker-Waffen kursieren im Internet. Interessenten müssen sich dazu nicht einmal unbedingt im Darknet bewegen, sondern werden auch im offenen Web fündig.
Hersteller von 3D-Druckern wollen den Missbrauch ihrer Geräte durch Waffennarren und Extremisten nicht länger hinnehmen. So kämpft der führende französische Hersteller Dagoma mit manipulierten Bauplänen gegen die Fertigung von Schusswaffen. "Die von uns veränderten Waffendateien sehen genau wie das Original aus, die fertig gedruckten Produkte allerdings sind nicht brauchbar", sagte Dagoma-Mitbegründer Matthieu Regnier. Diese "falschen" Schusswaffenmodelle seien bereits 13.000 Mal heruntergeladen worden.
Der Szene dürfte es aber auch künftig gelingen, im Netz Baupläne für Waffen aus dem 3D-Drucker aufzuspüren, die nicht manipuliert wurden - auch weil es dem radikal-liberalen US-Waffennarr Cody Wilson immer wieder gelingt, sich gegen Verbotsanträge durchzusetzen. Im Juni 2018 schloss die US-Regierung unter Präsident Donald Trump einen Vergleich mit Wilson, der ein Verbot aus der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama außer Kraft setzte. Allerdings versuchen verschiedene US-Staaten, die Verbreitung der 3D-Baupläne zu stoppen.
Wilson verkauft seit 2018 über eine separate Firma Bausätze, Software und eine spezielle CNC-Maschine für solche Waffen, die nicht aus dem Drucker kommen. Im Angebot ist ein Bausatz für ein halbautomatisches Sturmgewehr, das dem AR-15 nachempfunden ist. Mit dem AR-15 mordeten etwa die Todesschützen in Parkland und Las Vegas.
Der britische Waffen-Aktivist Philip Luty, der die Vorlagen für die Waffen im deutschen Halle an der Saale geliefert hat, erlebte die 3D-Drucker-Ära nicht mehr. Er starb 2011 an den Folgen einer Krebserkrankung, kurz bevor er sich vor einem Gericht in Großbritannien wegen einer Terrorismusklage verantworten musste.