Russischer Angriff

So rüstet sich die NATO für einen Krieg gegen Putin

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Wie sich die NATO fit für die Verteidigung gegen Russland machen will 

Beim NATO-Gipfel in Washington beschworen die Staats- und Regierungschefs Anfang Juli die Bedeutung der NATO. Abseits von dem Getöse der öffentlichen Bühne widmen sich die Planer der Militärallianz nun einer großen und langfristigeren Herausforderung: Wie sich das Bündnis militärisch so aufstellen muss, dass es einen Angriff Russlands auf NATO-Territorium abwehren kann.

Dazu könnte Moskau nach Einschätzung des deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius in etwa fünf Jahren in der Lage sein. Vor einem Jahr beim NATO-Gipfel in Vilnius hatten die Staats- und Regierungschefs die harmlos klingenden Regionalpläne abgesegnet, die ersten echten Verteidigungspläne der Allianz seit mehr als 30 Jahren. Seither beugten sich die NATO-Planer über Tausende Seiten geheimer Dokumente und übersetzten sie in konkrete militärische Forderungen, sprich was das Bündnis mindestens an Truppen, Waffen und Material vorhalten muss, um sich gegen einen russischen Angriff zu verteidigen. Ein paar Wochen vor dem Gipfel ließen sie ihre Schlussfolgerungen den Mitgliedsstaaten zukommen, und für einige Politiker dürfte es ein böses Erwachen gewesen sein.

Enorme Kosten

Denn die NATO hat viele ihrer Fähigkeiten aus dem Kalten Krieg abgerüstet. Die Streitkräfte wurden für Einsätze in Ländern wie Afghanistan oder dem Irak mit leichteren Waffen ausgestattet, denn dort kämpften sie gegen Gegner, die weit weniger gut ausgerüstet waren. Die Lücken werden nun offenbar - und damit auch das Preisschild, um die Arsenale und Armeen wieder aufzufüllen. "Die Rechnung liegt jetzt auf dem Tisch: Was kostet es, diese Verteidigungspläne umzusetzen?", beschreibt es ein Militärplaner. Viele, viele Milliarden, das sicher, auch wenn die genauen Summen noch nicht feststehen. Die Kosten treffen die Staaten in einer Zeit, in der Geld nach Jahren der Corona-Pandemie und Inflation knapp ist. Außerdem wird die Einigkeit des Bündnisses durch die unklare Regierungsbildung in Frankreich und die mögliche Rückkehr des NATO-Kritikers Donald Trump ins Weiße Haus auf die Probe gestellt.

Ein gutes Jahr werden die nationalen Planer nun über den Dokumenten brüten und klären, welches Land welche zusätzlichen Aufgaben übernehmen wird. Im Herbst 2025 sollen die Forderungen dann in bindende NATO-Ziele für die einzelnen Nationen umgewandelt werden. Dass es teuer wird, ist heute schon absehbar. Nach Angaben eines Insiders wird die NATO 35 bis 50 Brigaden zusätzlich benötigen, um die neuen Verteidigungspläne umzusetzen. Legt man den üblichen Schlüssel von zehn Prozent an, müsste Deutschland danach drei bis fünf zusätzliche Brigaden stellen. Eine Brigade hat 3.000 bis 7.000 Soldaten, das wären also 20.000 bis 30.000 Kampftruppen mehr als bisher, so der Insider. Dies entspricht einer zusätzlichen Division über die drei Divisionen hinaus, die aktuell nur unter Mühen vollständig mit Waffen und Material ausgerüstet werden.

Vorbereitungen für Ernstfall

Zudem müsste Deutschland seine Flugabwehr vervierfachen, wie ein zweiter Insider berichtet. Dabei geht es nicht nur um die großen Patriot-Batterien, sondern auch um kleinere Systeme mit geringerer Reichweite, die zum Schutz von Truppen bei der Verlegung genutzt werden. Das ist wichtig, denn anders als im Kalten Krieg ist Deutschland nicht mehr Frontstaat, sondern Aufmarschgebiet und logistisches Drehkreuz. Im Spannungs- oder Kriegsfall müsste es mehr als 100.000 NATO-Soldaten verpflegen, unterbringen und schützen, die in Nordseehäfen anlanden und sich dann auf den Weg an die Ostflanke machen.

"Da sind 100.000 Soldaten in einem Bundesland verteilt, vielleicht auf zwei, drei Truppenübungsplätzen. Die können Sie nicht mehr in Kasernen unterbringen, die werden sich dann irgendwo an Autobahnrändern oder Raststätten sammeln", sagt der Militärplaner. "Aber wie schütze ich solche Massen, damit sie nicht zum lohnenden Ziel werden? Sonst waren das die ersten und die letzten Amerikaner, die hier aufmarschiert sind." Weitere Szenarien sind ein Angriff auf den US-Fliegerhorst Ramstein oder einen Nordsee-Hafen wie Bremerhaven, über den NATO-Truppen auf dem Weg nach Polen verlegt würden.

Im Kalten Krieg hatte Deutschland 36 Patriot-Einheiten. Heute verfügt die Luftwaffe noch über neun dieser Systeme, nachdem sie drei an die Ukraine abgegeben hat. Allein das Füllen dieser Lücke wird Milliarden verschlingen, die ersten neuen Patriots sind bereits bestellt.

Andere Alliierte werden sich nach Einschätzung des Militärplaners mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sehen. "Am Ende reichen halt 2 Prozent nicht", sagt der Insider unter Verweis auf das NATO-Ziel für Militärausgaben, das sich auf den Anteil am Bruttoinlandsprodukt bezieht. Neben Flugabwehr und einer großen Zahl schwerer Kampftruppen hat die NATO vier weitere Bereiche ausgemacht, in denen sie dringend nachsteuern muss: Munition, weitreichende Raketen, Logistik und sichere IT im Gefecht.

Die Logistik spielt eine so große Rolle, weil Zeit ein viel entscheidenderer Faktor als im Kalten Krieg geworden ist. Während sich Zehntausende Soldaten aus West und Ost in den 80er Jahren an der innerdeutschen Grenze unmittelbar gegenüberstanden, müssten die NATO-Truppen heute im Krisenfall weit in den Osten verlegt werden. Aufmarsch und Verlegung dauern damit viel länger - bis zu 60 Tage, inklusive der Zeit, die die Politik bis zur Entscheidung über die Entsendung von Truppen benötigt, sagt der Militärplaner.

Denn es gibt nur wenige Straßen in Richtung Osten und schwer zu schützende Engstellen wie den Suwalki-Korridor - die gut 100 Kilometer lange Grenze von Litauen und Polen, die einzige Landverbindung zwischen den baltischen Staaten und dem übrigen NATO-Gebiet. Die Zahl der Güterwagen, die Panzer transportieren können, ist denkbar knapp. Und weitere Zeit geht verloren beim Umladen in Richtung Baltikum, wo die Bahn eine andere Spurweite hat als im Westen. Hinzu kommt, dass es unterwegs zu Sabotageakten gegen Militärtransporte kommen könnte. "Man kann sich eine Cyber-Attacke in Polen vorstellen, die die Bahn-Weichen lahmlegt", sagt der Planer.

Neben dem Transport von Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff muss in die Gegenrichtung auch der Abtransport von Verwundeten, Kriegsgefangenen und defektem Militärmaterial organisiert werden. Die NATO-Planer entwickeln die Routen bis ins kleinste Detail auf der Landkarte, entscheiden, wer welche Straße nimmt, und klären, ob Brücken genügend Tragkraft für einen Panzer haben und wo Ausweichrouten verlaufen.

Die komplizierte Logistik macht schnelle Entscheidungen und eine verlässliche Liste von Warnzeichen für einen kurz bevorstehenden Angriff umso entscheidender, damit westliche Truppen rechtzeitig verlegt werden können. "Eine der bitteren Lektionen aus der Ukraine ist, dass etwas, das wie eine Invasionstruppe ausschaut und sich wie eine Invasionstruppe verhält, durchaus eine Invasionstruppe sein kann", sagt ein hochrangiger NATO-Vertreter und spielt damit auf die Staaten an, die Ende 2021 trotz des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine nicht an eine Invasion geglaubt hatten.

Als Konsequenz schärfte die NATO ihre Liste mit einer zweistelligen Zahl an Warnzeichen für einen bevorstehenden Angriff nach, sagt der Planer, ohne Details zu nennen. "Im Zweifel müssen wir Zähne zeigen, bis an den letzten Zentimeter des Bündnisgebietes gehen, um ein Stoppschild zu setzen und abzuschrecken - oder zu kämpfen", sagt er. Vorstellbar ist für ihn auch, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Entschlossenheit der NATO mit einem räumlich begrenzten Angriff austesten könnte - etwa mit einer handstreichartigen Einnahme der estnischen Hauptstadt Tallinn.

In einem solchen Szenario stelle sich die Frage, ob die NATO tatsächlich Zehntausende Soldaten in den Kampf schicken und womöglich den Beginn "des großen Krieges" mit Russland in Kauf nehmen werde. Putin müsse solch einen Angriff nicht heute oder morgen anordnen. "Ganz im Gegenteil, das macht er vielleicht in einem Moment, wenn die Uneinigkeit in Europa größer ist als jetzt. Oder die amerikanische Unterstützung sich vielleicht nicht mehr so gut anfühlt, wie sie jetzt ist", spielt der Planer auf eine denkbare, erneute Wahl Trumps an.

Sollte dieser wieder US-Präsident werden, müsste Europa nach Einschätzung von Militärexperten noch viel schneller aufrüsten als bisher geplant. Europa müsse Notfallpläne in der Schublade haben, um handlungsfähig zu bleiben, falls sich Trump teilweise oder ganz aus der NATO zurückziehe, sagt Fabian Hoffmann, Militärexperte von der Universität Oslo. Im Falle eines russischen Angriffs auf NATO-Territorium könne es sein, dass Trump den Verbündeten zur Hilfe eile. "Aber können wir davon ausgehen? Absolut nicht."

Franz-Stefan Gady vom International Institute for Strategic Studies (IISS) warnt allerdings davor, nur auf Trump zu starren. "Egal, wer im Weißen Haus sitzen wird: Wir sind in einer Zeit, in der die NATO an Relevanz für die Vereinigten Staaten verlieren wird und daher die Europäer einfach mehr tun müssen, um ihre militärische Einsatzfähigkeit zu steigern", sagt der Österreicher. Die USA müssten verstärkt mit einem Zweifrontenkrieg rechnen und daher ausreichend Kräfte für einen weiteren Kriegsschauplatz in Ostasien oder dem Nahen Osten zurückbehalten. Bei einem Konflikt mit Russland könnten sie daher nur eine kleinere Anzahl Soldaten nach Europa schicken. Daher warnt Gady vor einem bösen Erwachen nach der Präsidentschaft von Joe Biden: "Wir haben uns die letzten vier Jahre der Biden-Administration in Europa in einer falschen Sicherheit gewiegt."

(Von Sabine Siebold und Matthias Williams/Reuters)

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