Das umstrittene Buch "Deutschland schafft sich ab" sorgt für Aufregung.
Er beginnt mit einem Zitat von Ferdinand Lassalle ("Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist."), zitiert zwischendurch Schiller und endet mit "Wanderers Nachtlied" von Goethe: "Über allen Gipfeln ist Ruh". Es ist eine Grabesstille, vor der sich Thilo Sarrazin, fürchtet: "Deutschland wird nicht mit einem Knall sterben. Es vergeht still mit den Deutschen und mit der demografischen Auszehrung ihres intellektuellen Potentials. (...) Wer wird in 100 Jahren 'Wanderers Nachtlied' noch kennen? Der Koranschüler in der Moschee nebenan wohl nicht." Gegen seinen Alptraum vom Verschwinden deutscher Sprache und Kultur schlägt Sarrazin in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" lautstark Alarm. Es sei höchste Zeit zu handeln, ruft er der Politik zu: "Hic Rhodus, hic salta!"
Grundthese
So sehr sich Sarrazin, ehemaliger Berliner Finanzsenator und derzeit Vorstandsmitglied der deutschen Bundesbank, auf Kultur und Dichtung beruft, so wenig literarisch formuliert er in dieser recht kruden Mischung aus demografischer Abhandlung und politischer Kampfschrift. Weniger das von ihm gesammelte Zahlenmaterial (das mit langen Tabellen belegt wird) und die daraus gezogenen Schlüsse (die man auch aus der politischen Debatte in Österreich zur Genüge kennt), als der hier angeschlagene Ton irritiert. In apodiktischer Weise wiederholt Sarrazin die von ihm bereits in der Einleitung formulierte Grundthese geradezu gebetsmühlenartig: "Über die schiere Abnahme der Bevölkerung hinaus gefährdet vor allem die kontinuierliche Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intelligenten und weniger Tüchtigen die Zukunft Deutschlands."
Keine Selbstzweifel
Sarrazin kennt weder Selbstzweifel noch Zwischentöne: "Ich stütze mich in meinen Ausführungen auf empirische Erhebungen, argumentiere aber direkt und schnörkellos." Die typische "gefühlsbetonte und mehr von Mitleid als von der klaren Analyse getriebene deutsche Diskussion" lehnt er ab. Dabei scheint er aber Demografie mit Demagogie zu verwechseln. Jene Passagen, mit denen er von der Empirie zur Interpretation wechselt, verwenden Vereinfachungen und politische Kampfrhetorik, die bisher in intellektuellen Debatten nicht salonfähig war. Sarrazin berichtet vom Widerstand der "sogenannten Gutmenschen" gegen seine Thesen, beklagt, dass den Menschen die Entwicklung des Weltklimas mehr Sorgen bereite als das von ihm befürchtete Aussterben der intelligenten Deutschen, und verwendet ein Vokabular, das man überwunden dachte: "Ich glaube, dass wir ohne einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation unsere gesellschaftlichen Probleme nicht lösen werden."
Es sind seine - stets mit Statistiken untermauerten - Pauschalierungen und Verallgemeinerungen über Zusammenhänge von sozialer und geografischer Herkunft, Intelligenz und Arbeitswilligkeit, die einen mehr als einmal an deutsch-nationale Pamphlete von einst denken lassen. Die Zielrichtung hat sich freilich umgekehrt. Hieß es früher "Ein Volk braucht Raum", wird nun das Aussterben der "autochthonen Deutschen" bzw. ihre allmähliche Verdummung durch starkes Anwachsen von Migranten und Muslimens befürchtet. Demografischer Wandel heißt das. Immerhin: Von "Umvolkung" ist nicht die Rede. Aber Sätze wie "Die Fremden, die Frommen und die Bildungsfernen sind in Deutschland überdurchschnittlich fruchtbar. Im Falle der muslimischen Migranten sind die drei Gruppen weitgehend deckungsgleich", lassen einen dennoch zusammenzucken.
Zuwanderung
In verschiedenen Kapiteln beschäftigt sich Sarrazin mit Bildungs-und Sozialsystem, Zuwanderung und Integration, und oft genug lässt sich im Einzelfall seine Argumentation gut nachvollziehen. In der erregt geführten Debatte hat der Ex-Politiker seine Gegnern immer wieder dazu aufgefordert, ihm "Fehler" nachzuweisen. Erstaunlich, dass er gegen Ende seines Buches durchaus einräumt, er stelle keine Prognosen, sondern Modellrechnungen an. Es könnte also doch noch alles anders kommen...
Wovor sich Thilo Sarrazin eigentlich fürchtet, macht er in zwei abschließenden Zukunftsszenarien deutlich. In seinem Alptraum spielen deutsche Stadttheater türkische und arabische Stücke, verfallen deutsche Schlösser und werden die Dome von Mainz und Worms zu Moscheen umgewandelt und wird der verpflichtende Deutschunterricht durch muttersprachlichen Unterricht ersetzt. "Im Jahre 2.100 konnte der kritische Historiker beim Blick in die Vergangenheit zufrieden registrieren, dass Deutschland seine demografischen Probleme vorbildlich und multikulturell korrekt gelöst hatte. Zwar war die Bundesrepublik im Lebensstandard weit hinter China zurückgefallen, auch Indien hatte Deutschland im Pro-Kopf-Einkommen überholt, aber man zeigte der Welt, dass sich die Probleme friedlich lösen ließen." Wer die 400 vorangegangenen Seiten gelesen hat, weiß, dass Sarrazin dies nur satirisch-zynisch meint. Und kommt dann doch ins Grübeln, welche anderen Problemlösungen er bevorzugen würde.