Wut auf Erdogan
Tote bei Explosion in türkischem Bergwerk
13.05.2014
Über 270 Tote - 787 Arbeiter zum Unglückszeitpunkt unter Tage.
Bei dem wohl schwersten Grubenunglück in der Geschichte der Türkei sind möglicherweise über 300 Bergleute ums Leben gekommen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Mittwoch nach einem Besuch der Kohlezeche in Soma nahe Izmir, 274 Tote seien geborgen. 120 Kumpel seien noch unter Tage eingeschlossen.
Ein Bergwerksexperte vor Ort sagte, wenn nicht noch ein Wunder geschehe, habe wohl keiner der Eingeschlossenen eine Überlebenschance. Die Regierung verhängte eine dreitägige Staatstrauer. Die EU bot Hilfe an. Zugleich wurde Kritik an der Sicherheit der türkischen Bergwerke laut. Mehrere hundert Menschen forderten lautstark den Rücktritt der Regierung, als Erdogan den Unglücksort besuchte.
"Dieses Unglück ist wohl das schwerste, das die Türkei je erlebt hat", sagte Energieminister Taner Yildiz. Erdogan reagierte abwehrend auf Kritik an der Sicherheit in türkischen Bergwerken. "Explosionen wie diese in solchen Bergwerken passieren andauernd" und nicht nur in der Türkei, sagte er auf seiner Pressekonferenz in Soma. Zur Untermauerung ratterte er eine Aufzählung von Grubenunglücken in aller Welt seit 1862 herunter. Das bisher schwerste Grubenunglück in der Türkei ereignete sich 1992 in der Provinz Zonguldak am Schwarzen Meer. Damals kamen durch eine Gasexplosion 263 Arbeiter ums Leben.
Ursache der Katastrophe war ein Feuer, das am Dienstagnachmittag die Stromversorgung lahmlegte. Dadurch konnte keine Frischluft mehr in die Schächte gepumpt werden, und die unter Tage auf ihren Schichtwechsel wartenden Kumpel saßen fest, da die Förderkörbe nicht an die Oberfläche gebracht werden konnten. Während es in ersten Berichten hieß, eine Stromanlage sei explodiert und dadurch sei das Feuer ausgebrochen, sagte Mehmet Torun von der Bergwerkskammer, ein nicht mehr aktiver Flöz habe sich erhitzt und Kohlenmonoxid durch die Schächte und Stollen verströmt. Seit der Nacht pumpten die Rettungskräfte Sauerstoff in die Schächte. Torun gab aber zu bedenken, dass eine Kohlenmonoxidvergiftung binnen drei bis fünf Minuten zum Tode führt. Sollten die eingeschlossenen Bergleute sich nicht in irgendwelche Frischluft-Blasen gerettet haben, dürfte wohl keiner von ihnen mehr lebend an die Oberfläche gebracht werden.
Die Rettungskräfte konnten in ihrem unermüdlichen Einsatz nach Angaben des Katastrophenschutzes 93 Menschen aus der Grube befreien. 85 von ihnen wurden verletzt in das überfüllte Krankenhaus der Stadt gebracht. Vor der Notaufnahme warteten Angehörige auf Nachrichten. "Es sind schon so lange keine Krankenwagen mehr reingefahren, dass wir langsam alle Hoffnungen aufgeben", sagte die 43-jährige Hatice Ersoy, die auf dem Gehweg kauerte. Psychiater wurden in Soma zusammengezogen, um den Angehörigen Beistand zu geben. Bereitschaftspolizei riegelte den Eingang zur Grube ab, damit die verzweifelten Familien und Kumpel nicht die Rettungsarbeiten behinderten. Ein Kühlhaus, in dem sonst Lebensmittel gelagert werden, diente als Leichenhalle. Auch in Kühllastern lagen Tote.
Das Arbeitsministerium hatte am späten Dienstagabend mitgeteilt, es habe die Sicherheit in der Kohlegrube regelmäßig kontrolliert, zuletzt im März. Es habe keine Unregelmäßigkeiten gegeben. Doch der Oppositionspolitiker Hursit Günes sagte, ein Antrag seiner Republikanischen Volkspartei auf einen Untersuchungsausschuss zu Sicherheit und Arbeitsbedingungen in den früher staatlichen Gruben um Soma sei von Erdogans AKP abgeschmettert worden. Die Regierung sei gewarnt gewesen und habe nichts unternommen, sagte Günes zu Reuters. "Es herrscht eine unglaubliche Lethargie bei dem Thema." Die Polizei ging mit Tränengas und Wasserwerfer gegen Studenten vor, die in Ankara zum Energieministerium marschieren wollten.
Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO nahm die Türkei, die EU-Mitglied werden will, 2012 in Europa den Spitzenplatz bei tödlichen Arbeitsunfällen ein. Weltweit lag sie auf Platz drei. Allein zwischen 2002 und 2012 kamen in dem Land mehr als 1.000 Bergleute bei Grubenunglücken ums Leben.