Experte schlägt Alarm: Der Kurdenkonflikt in der Türkei eskaliert.
Der Türkei steht eine neue Eskalation im Kurdenkonflikt bevor. Das meint der britische Türkei-Experte Gareth Jenkins vom "Silk Road Studies Program" in Istanbul. "Die Türkei nähert sich im Südosten des Landes einem Bürgerkrieg an". Noch nie in der Geschichte der türkischen Gegenwart habe das Land so unmittelbar vor einem Bürgerkrieg gestanden, so Jenkins im APA-Interview.
Großstädte
Ein signifikanter Unterschied zu den Unruhen in den 1990er-Jahren, als im Südosten der Ausnahmezustand herrschte, sei der nun ausgetragene Konflikt in den Großstädten. "Früher hätten die bewaffneten Auseinandersetzungen eher in den ländlichen Regionen stattgefunden", sagt der Wissenschafter. Zudem habe es noch nie zuvor in der Türkei die nun vorhandene Situation gegeben, dass die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten ganze Stadtteile besetzt halte, so Jenkins.
Seit August verhängen die Behörden immer wieder Ausgangssperren im kurdischen Südosten des Landes. In dem Bezirk Sur in Diyarbakir gilt seit dem 2. Dezember eine solche Sperre, in den naheliegenden Städten Cizre und Silopi seit dem 14. Dezember. Dort geht die Armee mit Panzern gegen Terroristen der PKK-Jugendorganisation YDG-H vor, die bewaffneten Widerstand leisten. Vergangene Woche berichteten türkische Medien, dass nun eine weitere Jugendorganisation von der PKK gegründet worden sei - mit dem Namen YPS.
300 Rebellen neutralisiert
Laut Armeeangaben seien schon rund 300 Rebellen "neutralisiert" worden, nahezu jeden Tag melden türkische Medien neue umgekommene Soldaten, die als "Märtyrer" gefallen seien. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte in der vergangenen Woche, es gebe gar kein Kurdenproblem in der Türkei, sondern nur kurdischen Terror. "Vergleichbares hat das Militär in den 1990-er-Jahren gesagt", so Jenkins.
Unter den Auseinandersetzungen leidet zunehmend die Zivilbevölkerung. Seit Beginn der Ausgangssperren zählt die prokurdische Partei HDP rund 70 getötete Zivilisten in den umkämpften Gebieten. Regierungskritische Medien veröffentlichen fast täglich Augenzeugenberichte von betroffenen Bewohnern im Südosten, die vom rücksichtslosen Vorgehen der Sicherheitskräfte erzählen. Zudem hätten sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, der Strom sei ausgeschaltet. Wegen der Ausgangssperren lassen sich die Angaben nicht überprüfen.
Berichterstattung
Dies sei ein großes Problem, kommentiert Jenkins. Denn aus der Region sei kaum unabhängige Berichterstattung möglich, auch Auslandskorrespondenten könnten wegen der Ausgangssperren kaum von dort berichten. Zudem herrsche in den regierungstreuen Medien eine Zensur zu diesem Thema, weswegen dieses dort nicht stattfinde. Zudem würden beide Seiten - sowohl Ankara als auch die PKK - nicht die Wahrheit erzählen.
Europa, so kritisiert Jenkins, schweige zu dem Konflikt. "Europa hat der Türkei viel Geld für die Flüchtlinge gezahlt, um das Problem hier zu lösen", sagt Jenkins. Wegen der Flüchtlingskrise zögere Europa deswegen mit seiner Kritik an Ankaras Kurdenpolitik und wolle Staatspräsident Erdogan nicht "verärgern", um die Flüchtlinge in der Türkei zu lassen.
Anschläge in Istanbul
Anzeichen dafür, dass der Bürgerkrieg auch in die westlichen türkischen Städte ausgetragen werden könnte, gibt es bereits. Bei einer Explosion durch einen Angriff mit Mörsergranaten am 23. Dezember auf dem Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen wurde eine Reinigungskraft getötet, mehrere Flugzeuge wurden beschädigt.
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, die aus der PKK hervorgegangenen "Kurdischen Freiheitsfalken" (TAK) hätten sich zu dem Angriff bekannt. Es habe sich dabei um eine "Kampf-Initiative" als Rache gegen das Vorgehen Ankaras "gegen das kurdische Volk" gehandelt. Auch Jenkins hält das Überschwappen des Konflikts in türkische Metropolen wie Istanbul für möglich. "Nur mit einem Dialog ist der Konflikt zu lösen", sagt er.