Die Regierung will weniger Einfluss des Militärs und mehr Bürgerrechte.
Die türkischen Wähler haben am Sonntag mit deutlicher Mehrheit für eine lange umstrittene Reform der Verfassung votiert. In einer Volksabstimmung votierten etwa 58 Prozent für ein Paket mit 26 Änderungen, das die islamisch orientierte Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorgelegt hatte. Die Wahlbeteiligung betrug mehr als 77 Prozent. Besonders große Unterstützung für die Reform kam aus Provinzen, in denen vor allem Kurden leben.
Vor allem Kurden dafür
Etwa 42 Prozent der Wahlberechtigten stimmten gegen die Reform. So stimmten in der Kurden-Metropole Diyarbakir im Osten der Türkei 94 Prozent für die Änderungen. In den Kurdengebieten gab es vereinzelt Zusammenstöße, nachdem kurdische Parteien zu einem Boykott aufgerufen hatten. Ihrer Ansicht nach beseitigen die Änderungen nicht die von ihnen beklagte Diskriminierung der Minderheit der Kurden, die 20 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen.
Militär versus Bürgerrechte
30 Jahre nach dem Putsch des Militärs will Erdogan die Macht des Parlamentes stärken und verspricht mehr Demokratie und Freiheit. So soll der Schutz persönlicher Daten der Bürger verbessert werden. Der Gleichheitsgrundsatz soll ergänzt werden, so dass staatliche Vorteile für benachteiligte Bevölkerungsgruppen ausdrücklich möglich werden. Dafür will die Regierung Befugnisse der Militärjustiz einschränken und mehr Einfluss des Parlaments bei der Ernennung höchster Richter sichern. Kritiker aus der Opposition werfen Erdogan und seiner AKP vor, sie wollten so die türkische Justiz unter Kontrolle bringen.
Erdogans AKP und die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP, die sich als Hüterin des säkularen Erbes von Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk versteht, hatten sich in den vergangenen Wochen einen heftigen politischen Schlagabtausch geliefert. Wer gegen die Reform stimme, verteidige die noch unter den türkischen Militärherrschern entstandene aktuelle Verfassung, sagte Erdogan. Die Volksabstimmung wurde nötig, weil die Reformen im Parlament keine ausreichende Mehrheit bekommen hatten.
Am Weg in die EU
EU-Vertreter haben erklärt, die Reformen würden grundsätzlich unterstützt. Kritik aus Brüssel gab es an den Vorbereitung für das Referendum. "Wir bedauern, dass den Reformvorschlägen nicht eine breite und umfassende Debatte mit der Zivilgesellschaft vorausging", sagte eine Sprecherin der EU-Kommission.
Rund 50 Millionen Stimmberechtigte waren am Jahrestag des Militärputsches von 1980 aufgerufen, über die Verfassungsänderungen abzustimmen. Mit einem Ja wären auch die Beteiligten an dem Staatsstreich nicht länger vor einer Strafverfolgung geschützt. Der damalige Militärchef Kenan Evren, der damals die Macht an sich riss und später Präsident wurde, ist heute 93 Jahre alt.
Am 12. September 1980, beendeten die Streitkräfte mit dem dritten Putsch in der türkischen Geschichte einige politisch unruhige Jahre. Es folgten zahlreiche Verhaftungen, und es kam zu Folterungen und Morden. Einige Jahre später begann der Aufstand der Kurden, der bis heute andauert und Tausende Menschen das Leben gekostet hat. Der lange Schatten des Militärs schwand erst in den vergangenen Jahren etwas.
Die Regierung verwies darauf, dass die jetzige Verfassung unter dem Eindruck des Militärputsches von 1980 entstanden sei. Jetzt seien demokratische Veränderungen gefordert, zu denen auch die Religionsfreiheit gehöre. 2008 hatte die Regierung noch den Kampf mit dem Verfassungsgericht in dieser Hinsicht verloren, als dieses einen von der Regierung geplanten Zusatz, der das Tragen von muslimischen Kopftüchern in Universitäten erlaubt hätte, wieder kassierte.