Erbitterter Kampf um Sjewjerodonezk
Russland und Ukraine tauschen Leichen von Soldaten aus
04.06.2022
Die Ukraine und Russland übergaben indes der jeweils anderen Seite die Leichen von 160 Soldaten.
Kiew (Kyjiw)/Moskau. Um Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine wird weiter erbittert gekämpft. Russland verstärke seine Truppen rund um die Industriestadt, teilte der ukrainische Generalstab am Samstag mit. Der Versuch der russischen Soldaten, ins nahe gelegene Bachmut vorzudringen und Sjewjerodonezk abzuriegeln, sei allerdings gescheitert. Daraufhin hätten sich die russischen Einheiten zurückgezogen. Die Ukraine und Russland übergaben indes der jeweils anderen Seite die Leichen von 160 Soldaten.
Der Gefangenenaustausch sei am 2. Juni entlang der Frontlinie im Gebiet Saporischschja erfolgt, teilte das ukrainische Ministerium für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete am Samstag in Kiew mit. Die Ukraine hatte Russland immer wieder aufgefordert, die getöteten Soldaten entgegenzunehmen, und der Führung in Moskau vorgeworfen, die eigenen Streitkräfte wie "Kanonenfutter" zu behandeln und sich nicht um eine würdige Beerdigung zu kümmern. Nach ukrainischen Angaben laufen auch weiter Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen auf beiden Seiten. In russischer Gewalt sind Tausende ukrainische Kämpfer, darunter die Verteidiger von Mariupol, die dort im Stahlwerk Asowstal die Stellung gehalten hatten, bis Kiew die Stadt im Mai aufgab.
Teile zurückerobert
Am Freitagabend hatte der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gaidai, erklärt, in Sjewjerodonezk seien Teile zurückerobert worden. Etwa ein Fünftel des an die russische Armee verlorenen Gebietes der Stadt sei wieder unter ukrainischer Kontrolle. Es sei nicht realistisch, dass Sjewjerodonezk in den kommenden zwei Wochen fallen werde. "Sobald wir genügend westliche Langstreckenwaffen haben, werden wir ihre Artillerie von unseren Stellungen wegdrängen. Und dann, glauben Sie mir, die russische Infanterie, sie werden einfach rennen.
Russische Soldaten sprengten nach Angaben des Gouverneurs Brücken in Sjewjerodonezk. Damit solle verhindert werden, dass militärische Ausrüstung und Hilfe für die Zivilisten in die Stadt gebracht werden könne, sagte Gouverneur Gaidai im Fernsehen. Ukrainische Einheiten hielten weiterhin ihre Stellungen in der Stadt und drängten russische Soldaten an mehreren Stellen zurück, sagt Gaidai. Die Industriestadt Sjewjerodonezk liegt am Siwerskji Donez, auf der anderen Seite des Flusses befindet sich ihre Zwillingsstadt Lyssytschansk.
Angesichts der dramatischen Situation in Sjewjerodonezk warnte der in Wien lebende ukrainische Oligarch Dmytro Firtasch vor der Wiederholung eines Szenarios wie in Mariupol. Firtaschs Holding GroupDF besitzt die Swjewjerodonezker Chemiefabrik Asot, in deren Bunkern sich 800 Zivilisten aufhalten sollen, darunter 200 Fabriksarbeiter. Russland müsse den laufenden Angriff bedingungslos einstellen, forderte der Ukrainer am Samstag laut einer Aussendung.
200 Mitarbeiter in Stickstofffabrik geblieben
Trotz des verstärkten Angriffs russischer Truppen seien 200 Mitarbeiter in der Stickstofffabrik geblieben, um die Reste von dort lagernden "hochexplosiven Chemikalien" bestmöglich zu sichern und professionell zu schützen, hieß es in der Aussendung. Ein Großteil des in der Anlage gelagerten Stickstoffs sei jedoch rechtzeitig aus dem Konfliktgebiet evakuiert worden.
Nach Erkenntnissen des britischen Militärgeheimdienstes hält das russische Militär seine Artillerie- und Luftangriffe im Osten der Ukraine auf einem hohen Niveau. "Der verstärkte Einsatz von ungelenkter Munition hat zur großflächigen Zerstörung bebauter Gebiete im Donbass geführt und mit ziemlicher Sicherheit erhebliche Kollateralschäden und zivile Opfer verursacht", teilte das Verteidigungsministerium unter Verweis auf den regelmäßigen Geheimdienstbericht auf Twitter mit. Russland habe seine taktischen Luftangriffe verstärkt, um den langsamen Vormarsch zu unterstützen. Zum Einsatz kämen Kampfflugzeuge und Artillerie.
Auch im Süden der Ukraine setzte das russische Militär seine Angriffe fort. In der Region Odessa habe am Samstagmorgen eine Rakete ein landwirtschaftliches Lager getroffen, schrieb ein Sprecher der Regionalregierung auf Twitter. Zwei Menschen seien verletzt worden.
Angriff auf die Region Charkiw
Zudem wurden bei einem Angriff auf die Region Charkiw im Nordosten am Freitag zwei Menschen getötet. Zwei weitere seien verletzt worden, als ein ziviles Ziel von russischer Seite beschossen worden sei, meldete die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf Rettungskräfte.
Die russische Armee kontrolliert etwa ein Fünftel des ukrainischen Territoriums. Etwa die Hälfte davon - wie die annektierte Halbinsel Krim - geriet bereits 2014 unter Kontrolle Russlands beziehungsweise der von ihm unterstützten Separatisten im Donbass im Osten. Das übrige Gebiet haben die russischen Soldaten seit Beginn ihrer Invasion am 24. Februar eingenommen.
Seit einiger Zeit konzentriert Russland seine Offensive auf den Osten des Nachbarlandes. Seine Truppen rücken langsam, aber stetig vor. Es ist ihnen bisher jedoch nicht gelungen, die beiden Regionen Luhansk und Donezk, die den Donbass bilden, vollständig einzunehmen. Sollte das russische Militär Sjewjerodonezk und seine Zwillingsstadt Lyssytschansk auf der anderen Seite des Flusses Siwerskji Donez einnehmen, hätte es die Region Luhansk vollständig unter Kontrolle. Der russische Präsident Wladimir Putin hätte damit ein wichtiges Ziel erreicht.
Gebiete im Süden der Ukraine eingenommen
Die russischen Truppen haben bereits im Süden der Ukraine Gebiete eingenommen. Sie haben die Kontrolle über die praktisch zerstörte Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer, das über die Straße von Kertsch mit dem Schwarzen Meer verbunden ist, und wollen die Krim über eine Landbrücke mit dem Donbass verbinden. Die Krim liegt zwischen dem nördlichen Schwarzen Meer und dem Asowschen Meer.
Die ukrainische Präsidialverwaltung prognostiziert, dass der russische Angriffskrieg noch bis zu einem halben Jahr dauern kann. "Das kann sich noch zwei bis sechs Monate hinziehen", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak im Interview mit dem oppositionellen russischen Online-Portal "Medusa" am Freitagabend. Am Ende hänge es davon ab, wie sich die Stimmung in den Gesellschaften Europas, der Ukraine und Russlands verändere.
Verhandlungen werde es erst geben, wenn sich die Lage auf dem Schlachtfeld ändere und Russland nicht mehr das Gefühl habe, die Bedingungen diktieren zu können, sagte Podoljak. Er warnte dabei einmal mehr vor territorialen Zugeständnissen an Russland. Das werde den Krieg nicht beenden.