Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan muss sich erstmals einer Stichwahl stellen.
99 Prozent der Wahlurnen im Inland und 84 Prozent der Auslandsstimmen seien bisher ausgezählt. Erdogan kommt auf 49,4 Prozent, wie der Leiter der Wahlbehörde, Ahmet Yener, am Montag mitteilte. Dahinter folgt demnach mit 44,96 Prozent Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der an Spitze eines Sechs-Parteien-Bündnisses steht. 5,2 Prozent entfielen auf den Ultranationalisten Sinan Ogan.
Als Drittplatzierter wäre er bei der Stichwahl 28. Mai nicht mehr dabei. Für einen Sieg in der ersten Runde am Sonntag wäre eine absolute Mehrheit notwendig gewesen. Wählerinnen und Wähler mit türkischem Pass in Österreich und anderen Ländern können bereits zwischen dem 20. und 24. Mai ihre Stimme abgeben.
Ogan wertete schwaches Abschneiden als Erfolg
Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz könnte bei der Stichwahl eine wichtige Rolle zukommen, sollte er eine Wahlempfehlung abgeben. Ogan wertete daher sein schwaches Abschneiden (rund 5,3 Prozent) als Erfolg. Mit seinen Anhängern will er nun beraten. "Wir werden niemals zulassen, dass die Türkei in eine Krise gerät", sagte Ogan in der Nacht auf Montag.
Die Wahlbehörde gab das Ergebnis der Parlamentswahl zunächst nicht bekannt. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.
Wahl galt als richtungsweisend
Die Wahl galt als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das NATO-Land weitere fünf Jahre unter Erdogan noch autokratischer werden könnte. Kilicdaroglu trat als Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch international wurden die Entwicklungen in der Türkei aufmerksam beobachtet wegen ihrer Bedeutung für Konflikte in der Region wie dem Syrien-Krieg und für das Verhältnis zur EU und Deutschland.
Schon zu Beginn der Abstimmung gab es Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans Partei AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Erdogan warf der Opposition wiederum "Raub des nationalen Willens" vor.
Auch wenn Erdogan in zwei Wochen noch immer gewinnen kann - für den 69-Jährigen ist das Ergebnis ein Rückschlag. Seit er 2003 zunächst zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat er jede landesweite Wahl gewonnen. Seit 2014 ist er Staatspräsident. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm durch die Stichwahl verloren. Erdogan zeigte sich in der Nacht zu Montag dennoch gut gelaunt vor jubelnden Anhängern in Ankara und stimmte ein Lied an.
Kilicdaroglu trat in der Nacht vor die Presse
Der 74-jährige Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Bündnisses vor die Presse. "Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte", sagte er.
Alle Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert - eine Stichwahl gab es noch nie. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.
Alle Augen schauen nun auf die Große Nationalversammlung in Ankara. Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden dort ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten können. Sollte Kilicdaroglu bei einer Stichwahl gewinnen, könnten sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren, was zu einer Regierungskrise führen könnte. Erdogan scheint dieses Szenario schon für den Wahlkampf in den zwei Wochen vor der Stichwahl nutzen zu wollen. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl "Sicherheit und Stabilität" bevorzugten, sagte er in der Nacht.
Schwierige zwei Wochen für die Türkei
Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. Es kommen in jedem Fall schwierige zwei Wochen auf die Türkei zu. Die Landeswährung Lira könnte durch die unsichere Situation weiter an Wert verlieren.
Der Wahlkampf stand auch im Zeichen des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar in der Südosttürkei. Wie hoch die Wahlbeteiligung in den betroffenen Regionen war, wird sich am Ende der Auszählung zeigen. Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten kleinere Zwischenfälle aus verschiedene Provinzen.
Der Wahlkampf galt als unfair, auch wegen der medialen Übermacht der Regierung. Erdogan hatte die Opposition scharf attackiert und seinen Gegner etwa als "Säufer" und "Terroristen" bezeichnet. Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen. Auch vor der Stichwahl wird Erdogan auf die meisten Medien und die Regierungsmehrheit im Parlament bauen können.
Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken
Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken, wie der Erhöhung von Beamtengehältern und Großprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie. Kilicdaroglu verspricht, Korruption und Inflation zu bekämpfen und das Land zu demokratisieren. In der Migrationsfrage schlägt er einen nationalistischen Ton an. Die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien will er zurückschicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln.
Insgesamt waren rund 64 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund 3,4 Millionen im Ausland.