Verzweiflung pur, so erlebt ÖSTERREICH-Reporter Herbert Bauernebel das Leid. Medizinische Versorgung gibt es noch keine.
Gestern um 4.00 Uhr Früh wachten wir mit einem Ruck auf. Die Erde bebte wieder – 30 Sekunden lang. Um mich herum herrschte mit einem Mal wieder Panik. Es war ein deutlich spürbares Nachbeben, das uns aus dem leichten Schlaf im Freien riss. Danach brachte ich kein Auge mehr zu.
Zwei Millionen Menschen haben bald kein Wasser
Die Lage in der
völlig devastierten Hauptstadt Port-au-Prince spitzt sich zu: Für zwei
Millionen Menschen werden Wasser und Nahrung knapp. In ihrer völligen
Verzweiflung plündern viele Menschen die Ruinen der Geschäfte. Sie sind auf
der Suche nach Wasser, nach ein wenig Essbarem. Oft sind auch Schüsse zu
hören, Banden gehen bewaffnet auf Raubzüge – es herrscht Anarchie.
Banden bilden Straßen-Sperren aus Leichen
In Downtown
Port-au-Prince, dem meistzerstörten Teil der Stadt, beobachtete ein
amerikanischer Reporter der Times, wie Banden Straßensperren aus Leichen
errichteten – sie schichteten Leichen aufeinander, bis die Straßen nicht
mehr passierbar waren. Die Wut der Menschen hier ist deutlich spürbar. Sie
fühlen sich von der Welt und ihrer Regierung vernachlässigt.
Die Lage ist explosiv, das zeigt ein Rundgang durch die verwüstete Stadt: Vor der Regierungsvilla von Premierminister Jean-Max Bellerive wurde im Gartenareal ein notdürftiges Auffanglager für Verletzte und Obdachlose eingerichtet. Darunter befinden sich auch Schwerverletzte, die eigentlich dringend ins Spital müssten.
Noch immer gibt es keinen Platz in den Spitälern
Marimen
Gedeon (52) war von Gebäudeteilen getroffen worden und hat tiefe Wunden an
den Beinen, Armen und im Gesicht. Sie sind eitrig und infiziert. Sie hat
Fieber, die Brust schmerzt. Einen Sohn und eine Tochter hat sie in der
Tragödie verloren. Ihr Mann reibt ihr, rührend aber hilflos, eine ölige
Creme auf die Wunden.
Eine Helferin nimmt Daten auf: Name, Grad der Verletzungen. Sie werden sie abholen, wenn ein Platz in einem Spital frei wird, verspricht sie ihr. Wann? Sie hat keine Ahnung.
Alle lokalen Spitäler sind komplett überfüllt, die Infrastruktur anreisender, internationaler Hilfsorganisationen erst im Aufbau. Rund um sie Bilder der Verzweiflung: Eine junge Frau starrt stoisch vor sich hin, ihre Augen sind leer. Sie hat in dem Horror ihr Baby verloren, ihr Mann starb an seinem Arbeitsplatz. Sie hat ein zerfetztes Kleid am Leib, alles, was ihr blieb. „Was soll aus ihr werden?”, fragt der haitianische Überlebende Noel Myford (24), der ÖSTERREICH in der Katastrophenzone begleitet: „Was soll jetzt aus Haiti werden?“
Auf einer Bergstraße entdecke ich 30 Leichen
Tausende
Leichen liegen noch auf in den Straßen. 30 zähle ich entlang einer einzigen
Bergstraße. Hier ist auch das bei Touristen so beliebte Hotel Montana
eingestürzt. In diesem Hotel wurde die Österreicherin Regina Tauschek vom
Beben erwischt.
Überall liegen weiße Tücher.
Meist ragen die Füße
der Toten unter den Laken hervor. Der Gestank der Leichen ist bestialisch.
Einheimische graben immer noch verzweifelt mit primitiven Werkzeugen und bloßen Händen nach den Toten. 7.000 Leichen wurden gestern in einem Massengrab beerdigt.
Die Behörden begannen, bei den Sammelstellen persönliche Daten von Familienangehörigen über die Zahl der Vermissten einzuholen. Eine erste grobe Totenliste soll erstellt werden. Die haitianische Regierung schätzt die Zahl der Toten auf über 140.000.
Angst vor dem Ausbruch von Seuchen ist groß
Zigtausende
Leichen sind noch unbestattet, die Leichenhallen sind überfüllt. Die Angst
vor dem Ausbruch von Seuchen ist groß und gerechtfertigt. Brasilien hat
sogar den Bau eines neuen Friedhofs in Port-au-Prince angeboten.
Dabei muss auf die weit verbreitete Voodoo-Religion Rücksicht genommen werden. Deren Angehörige lassen es nicht zu, dass die Toten vor Ende der Zeremonie berührt werden.
Die internationale Hilfe läuft an – langsam, viel zu langsam: Der beschädigte Flughafen kann die Hilfsflüge kaum bewältigen. Als Fluglotsen fungieren US-Soldaten mit Funkgeräten. Alle Privatflüge wurden gestoppt. Am Landweg kämpfen die Hilfskonvois mit weggerutschten Hängen und schwer passierbarer Straßenstellen.
Der Zorn in der Bevölkerung nimmt zu. Sie werfen den internationalen Hilfsorganisationen vor, sich erst auf die Versorgung und Rettung ausländischer Staatsbürger zu konzentrieren.
Jubel brach aus, als gestern der Flugzeugträger USS Carl Vinson im Hafen einlief. 18 Helikopter sollen bei der Verteilung der Hilfsgüter helfen. Es ist ein Anfang.