Der sexuelle Missbrauch in Deutschland nimmt immer größere Ausmaße an. Die Opfer fordern nun Schadenersatz und Akteneinsicht.
Der jahrzehntelang verschwiegene sexuelle Missbrauch an Schulen und Einrichtungen des katholischen Jesuitenordens in Deutschland nimmt immer größere Ausmaße an. Ein dritter Pater hat Übergriffe auf Jugendliche in Hannover gestanden, drei Opfer hatten sich gemeldet. Er unterrichtete Anfang der 70er Jahre auch am Berliner Jesuiten-Gymnasium Canisius-Kolleg.
Der Schulleiter des Berliner Jesuiten-Gymnasiums, Klaus Mertes, sagte dem "Tagesspiegel", es sei wohl erst die "Spitze des Eisbergs" zu sehen. Frühere Lehrer und Schulleiter hätten bewusst weggesehen. "Das Schweigen ist sozusagen das Benzin für den Motor des Täters." Mertes betonte: "Das, was bei uns sichtbar geworden ist, passiert auch an anderen Schulen, nicht nur an katholischen."
Übergriffe hatten lange Tradition
Im Berlin-Blog
"Spreeblick" schreiben Teilnehmer über Fälle sexuellen Missbrauchs bereits
in den 60er Jahren, über drei weitere Täter und eine "lange Tradition" der
Übergriffe" an der Berliner Schule. Ein Teilnehmer schreibt unter dem
Pseudonym "Ehemaliger": "Es gab auch Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre
von anderen Patres Annäherungsversuche und Streben nach körperlichem Kontakt
zu Schülern."
Der geständige dritte Geistliche war von 1981 bis 1983 auch an der Hamburger Sankt-Ansgar-Schule beschäftigt und hat dort ebenfalls Buben belästigt. "Heute hat sich ein Opfer per E-Mail bei mir gemeldet", sagte Schulleiter Friedrich Stolze der Deutschen Presse-Agentur dpa am Mittwoch. "Ich vermute, dass es weitere Benennungen geben wird", sagte Stolze. Bisher wurden drei Missbrauchsfälle an der ehemaligen Jesuitenschule in Hamburg bekannt.
"Wir wollen Aufklärung"
Mehrere Opfer der
Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Gymnasium fordern neben finanziellem
Schadenersatz auch vollständige Einsicht in die Akten der Schule und des
Jesuiten-Ordens. "Wir wollen Aufklärung", sagte Manuela Groll,
Rechtsanwältin von drei Männern, die nach eigenen Angaben vor Jahrzehnten an
der Schule missbraucht wurden. "Wir haben allerdings eine ablehnende Antwort
erhalten."
Zur Forderung nach Aufklärung sagte Groll weiter: "Dazu gehören auch Antworten auf die Fragen: Wer hat wann versagt? Und wen kann man zur Rechenschaft ziehen?" Sie prüfe jetzt eine Zivilklage auf Schadenersatz gegen die Schule und den Orden als Träger der Schule. Bisher waren Taten von zwei Lehrern bekannt, die in Berlin, später auch in Hamburg, dem Schwarzwald, Hildesheim, Göttingen und dem Ausland Kinder sexuell belästigten oder missbrauchten. Einer von ihnen hat die Übergriffe zugegeben.
Opfer meldete sich
Die deutsche Leitung des Jesuiten-Ordens in
München rechnet mit weiteren Hilferufen von Opfern. Die Vorfälle aus den
70er Jahren in Hannover "geben Anlass zu der Befürchtung, dass es auch an
anderen Orten solche Übergriffe gegeben hat", erklärte Jesuiten-Chef Stefan
Dartmann. Er entschuldigte sich bei den Opfern im Namen des Ordens. Der
beschuldigte dritte Pater habe inzwischen eine Tat zugegeben und sich nach
Aufforderung selbst angezeigt. Der Orden habe den Mann vom priesterlichen
Dienst suspendiert.
Nach Angaben der Jesuiten arbeitete der dritte Täter als Religionslehrer am Canisius-Kolleg (1970-1971), als Jugendseelsorger in Hannover (1971-1975), dann wieder als Lehrer und in der Jugendarbeit in Berlin (1976-1981) und schließlich als Lehrer und Jugendseelsorger in Hamburg (1981-1983). Danach sei er mehr als 20 Jahre lang Projektleiter eines Hilfswerks gewesen. Den letzten Posten musste er abgeben, als sich vor einiger Zeit ein Opfer meldete.
Vertrauensverlust in Kirche
Nach dem Missbrauchs-Skandal sieht
der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode einen gewaltigen Vertrauensverlust
für die katholische Kirche. Die Kirche habe in der Vergangenheit Fehler im
Umgang mit Geistlichen gemacht, die sexuell auffällig geworden seien, sagte
der Bischof dem Sender NDR 1. Bode ist Vorsitzender der Jugend-Kommission
der Deutschen Bischofskonferenz.
Mit Bestürzung reagierte der Hamburger Erzbischof Werner Thissen auf die Vorfälle an der Sankt-Ansgar-Schule. "Es haut mich um. Und es ist furchtbar, ganz furchtbar. Es bedarf starker geistiger und psychischer Anstrengung, ruhig und sachlich mit diesen Vorfällen umzugehen", sagte Thissen dem "Hamburger Abendblatt".
Aufruf an mögliche weitere Opfer
Das Bistum Hildesheim will
an diesem Sonntag in Hildesheim und Hannover im Gottesdienst einen Aufruf an
weitere mögliche Opfer verlesen lassen, sich zu melden. Die Fälle erfüllten
ihn "mit Scham und Empörung" und bedrückten ihn zutiefst, erklärte der
Hildesheimer Bischof Norbert Trelle. "Im Namen der Kirche von Hildesheim
drücke ich den Opfern mein tief empfundenes Mitgefühl aus."
Die Deutschen Bischofskonferenz will sich nach Angaben einer Sprecherin bei ihrer nächsten Vollversammlung vom 22. bis 25. Februar in Freiburg mit dem Skandal beschäftigen. Das Erzbistum Berlin kündigte eine intensivere Vorbeugung zum Thema Missbrauch an. Am nächsten Dienstag sollen alle Direktoren von Schulen des Erzbistums informiert und Maßnahmen zur Vorbeugung vorgestellt werden.