Während nach dem Vorstoß der Ukraine auf russisches Gebiet zehntausende Russen aus den Grenzregionen evakuiert werden, herrscht im 500 Kilometer entfernten Moskau Unverständnis und Zorn darüber, wie es überhaupt zu dem Einmarsch kommen konnte.
Die von Russland getroffenen Gegenmaßnahmen seien zu spät gekommen, sagt etwa Denis, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Der Kreml hätte diese sofort ergreifen und Truppen entsenden müssen. "Aber der Generalstab hat nicht reagiert".
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Ukrainische Truppen haben in den vergangenen Tagen die Grenze zur Region Kursk überquert und sind mehrere Kilometer auf russisches Gebiet vorgerückt - am Samstag hatte Moskau dann die Evakuierung von 76.000 Menschen aus der Grenzregion angekündigt. Am Abend zuvor wurden für Kursk sowie zwei weitere Grenzregionen "Anti-Terror-Operationen" angekündigt, die den Sicherheitskräften mehr Befugnisse geben, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Sie können dort nun Fahrzeuge beschlagnahmen, Städte abriegeln, Kontrollpunkte einrichten und Telefongespräche abhören.
Militärische Verstärkung
Zugleich kündete Moskau an, es werde militärische Verstärkung in die Grenzregionen geschickt, darunter Panzerkolonnen und Raketenwerfer. Viele Menschen in Moskau zeigen sich irritiert darüber, dass die ukrainische Armee die Grenze so leicht überqueren konnte. "Sie sind zwar weit weg, aber es fühlt sich sehr nah an", sagt Victoria, eine 36-jährige IT-Analystin.
Dennoch habe ihre Familie "volles Vertrauen" in die Regierung. Die nun ergriffenen Maßnahmen seien der richtige Weg, fügt sie hinzu. Auch die pensionierte Lehrerin Elmira Lwowna unterstützt die vom Kreml verhängten "Anti-Terror-Maßnahmen". Diese seien "keine schlechte Sache", da die Lage der Menschen damit organisiert werde.
Umfangreiche Hilfe für evakuierte Menschen
"Wir müssen in so einer Situation alle Maßnahmen ergreifen, die möglich sind", sagt seinerseits der 42-jährige Architekt Alexander Iljin. "Wir haben Abteilungen und Verantwortliche, die daran arbeiten." Sollte es irgendwo Versäumnisse gegeben haben, müsse alles dafür getan werden, dass dies nicht wieder passiert, fügt er hinzu.
Für die aus den Grenzregionen evakuierten Menschen wurde öffentlich umfangreiche Hilfe organisiert. Über die militärische Lage wird in den staatlichen Medien jedoch nur wenig berichtet. Das verärgert auch Maria, die 35-jährige Ehefrau von Denis, die in der Werbung arbeitet. Niemand wisse, "was gerade passiert", sagt sie und kritisiert, die Menschen würden "an der Nase herumgeführt". In einigen TV-Sendungen werde berichtet, dass "alles wie immer ist und der Feind gestoppt wurde. Aber die Leute vor Ort - wir haben Verwandte in Kursk - sprechen von einer Schmach."
Kritik von Militärbloggern
Auch einflussreiche Militärblogger, welche die russische Militäroffensive in der Ukraine unterstützen, haben die Armeeführung scharf kritisiert. Diese habe den ukrainischen Vorstoß nicht rechtzeitig bemerkt und ihn auch nach fünf Tagen noch nicht abgewendet, bemängeln sie.
Der Angriff hat Russland, das bei weitem über mehr Soldaten und mehr Waffen als die Ukraine verfügt, offenbar unvorbereitet getroffen. Im Grunde ist es der umfassendste Angriff einer ausländischen Macht auf russisches Gebiet seit dem Zweiten Weltkrieg.
"Soweit wir wissen, gibt es schwere Verluste unter den Soldaten auf russischer Seite und viele zerstörte Wohngebäude", sagt Denis. Es stelle sich die Frage, wer dafür zur Rechenschaft gezogen werden muss. Seiner Meinung nach handelt es sich entweder um einen "sehr schlauen Plan" der Ukrainer - oder um das Ergebnis von "Fehlern" des russischen Armee-Kommandos.