207 Tote, tausende Obdachlose - Das ist die vorläufige Bilanz des Erdbebens.
Nach dem verheerenden Erdbeben in der mittelitalienischen Region Abruzzen mit über 200 Toten tobt in Italien eine scharfe Polemik über die schlechte Bauqualität der Gebäude in Gebieten mit erhöhtem Erdbeben-Risiko. "In Italien gibt es keine Kultur der Prävention", so der Ex-Chef des italienischen Zivilschutzes Franco Barberi, der seit Jahren die mangelnde Vorsorge kritisiert.
"In Kalifornien hätte ein derartiges Erdbeben wie in den Abruzzen nicht einen einzigen Toten verursacht", sagte Barberi. Diese Ansicht teilt auch der prominente Vulkanologe Enzo Boschi, Präsident von Italiens Geophysik-Institut. "In den Abruzzen sind fast alle Gebäude eingestürzt, obwohl das Erdbeben nicht so extrem stark war", meinte Boschi.
Auch moderne Gebäude betroffen
Wenn man durch die
betroffenen Ortschaften fahre, falle auf, dass auch erst jüngst errichtete
Gebäude eingestürzt seien. Ein Land wie Italien, eine der seismisch
unruhigsten Gegenden der Erde, müsse unbedingt Systeme zur Reduzierung
möglicher Erdbebenschäden entwickeln. Italien müsse sich an Kalifornien und
Japan ein Beispiel nehmen, die mit dem Problem wiederholter Erdbeben leben
und massiv in die Sicherheit der Gebäude investiert haben, so Boschi.
Jede 2. Schule gefährdet
Fast 26 Millionen Menschen leben in
Italien in Gebieten mit einem erhöhten Erdbeben-Risiko, das sind 45 Prozent
der Bevölkerung. Sieben Millionen Gebäude sind gefährdet, sollte es zu einem
stärkeren Erdstoß kommen. 80.000 öffentliche Gebäude, wie Schulen und
Krankenhäuser, wurden nicht nach den modernen Sicherheitsstandards
errichtet. Jedes zweite Schulgebäude in Italien ist einer Studie der
Regierung zufolge nicht genügend auf die Risiken überprüft.
Forderung nach Mehrstufenplan
Auch, wenn es eine
hundertprozentige Erdbebensicherheit nicht geben könne, so kenne die
Wissenschaft doch Mittel und Wege, die Situation wesentlich zu verbessern,
betonten italienische Experten. Das Wissen sei vorhanden, woran es fehle sei
die Umsetzung. Dabei seien Neubauten weniger das Problem, als vielmehr die
Altbestände an Gebäuden oder Brücken. Experten regten an, die heimische
Erdbebensicherheit mittels eines Mehrstufen-Planes zu verbessern.
Neue Wohngebiete versprochen
Nach dem Erdbeben betonte der
italienische Regierungschef Silvio Berlusconi sein Vorhaben, neue
Wohnbaugebiete in der Nähe von L'Aquila zu errichten, in denen die
Obdachlosen untergebracht werden sollen. Die Regierung hatte vergangene
Woche einen Plan verabschiedet, um während der Wirtschaftskrise durch
lockere Vorschriften die Bauwirtschaft wieder in Gange zu setzen.
Die Menschen befürchten, dass sie nach der Phase des Schocks angesichts der vielen Todesopfer alleingelassen werden könnten. Zwar hat die Regierung vollmundig Hilfen versprochen. "Ein neues L'Aquila" solle gebaut werden, versicherte Regierungschef Silvio Berlusconi, der bei einer Ministerratsitzung am Montagabend Finanzierungen für erste Hilfsmaßnahmen locker gemacht hat. Zugang zum EU-Krisenfonds will Italien erhalten. Damit sollen Millionen Euro für den Wiederaufbau der Region Abruzzen zur Verfügung gestellt werden.
Skepsis bei den Einwohnern
Die Obdachlosen sind jedoch skeptisch.
"Wir brauchen Hilfe, wie soll es hier weitergehen?", sagte eine Rentnerin,
die im Einsturz ihrer Wohnung zwei Nichten verloren hat. Es wäre nicht das
erste Mal in Italien, dass versprochene Hilfen nach Erdbeben niemals bei den
Bedürftigen ankommen, sondern die Gelder in ganz andere Taschen fließen.
Über 20 Jahre dauerten die Wiederaufbauarbeiten in Irpinien bei Neapel, das
Anfang der 80er Jahren von einem schweren Erdbeben erschüttert wurde. 1.200
Menschen haben in Umbrien noch immer kein neues Dach über dem Kopf. Auch das
macht den Obdachlosen von L'Aquila nicht gerade Hoffnung.
Auch gegen Berlusconis Idee eine neue Stadt in einem Vorort von L'Aquila zu bauen, gibt es erhebliche Vorbehalte. "Wir wollen, dass unser Stadt aus den Trümmern aufersteht", meint der Bürgermeister von L'Aquila, Massimo Cialente.
Fertighäuser werden gebaut
Einen ersten Hoffnungsschimmer
gibt es allerdings für die Menschen in L'Aquila: Schon in den nächsten Tagen
soll der Zivilschutz eiligst billige Fertighäuser aufstellen. "Es muss erst
mal ein provisorisches Dorf errichtet werden", meint ein Zivilschützer.
Viele Obdachlose bangen, dass das Provisorium zum Dauerzustand werden
könnte. Sie wollen aber nicht dem Rat der Regierung folgen und Zimmer in den
Hotels an der Adria-Küste beziehen.