Proteste von Erdbebenopfern gegen die Untätigkeit der Regierung mehren sich inzwischen.
Mehr als 200.000 Menschen sind nach jüngsten Schätzungen beim Erdbeben in Haiti ums Leben gekommen, teilte Premierminister Jean-Max Bellerive am Mittwochabend (Ortszeit) mit. Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton hat sich bereiterklärt, im Auftrag der Vereinten Nationen alle Hilfen zu koordinieren. Immer mehr Erdbebenopfer sind indes mit der haitianischen Regierung unzufrieden und beginnen zunehmend, ihren Unmut zu äußern.
Zahl der Toten nie endgültig ermittelbar
In der neuen Zahl
von 200.000 seien aber nicht die Opfer enthalten, die noch immer unter den
Trümmern lägen, oder diejenigen, die von ihren Verwandten bestattet worden
seien, sagte Bellerive. Die Regierung geht außerdem von 250.000 zerstörten
Häusern und mehr als einer Million Obdachlosen aus. Zudem seien etwa 4.000
Menschen Arme oder Beine amputiert worden. Hilfsorganisationen hatten die
Zahl der Amputierten zuvor bereits auf 6.000 geschätzt. Die tatsächliche
Zahl der Toten und der Verletzten wird sich nach Meinung von Experten nie
endgültig ermitteln lassen.
Proteste von Erdbebenopfern
Unterdessen mehren sich Proteste von
Erdbebenopfern, die bei der Verteilung von Hilfsgütern noch nicht
berücksichtigt wurden. Oppositionelle Politiker hatten bereits am Dienstag
die Bildung einer Notstandsregierung gefordert. Demonstranten warfen der
haitianischen Regierung vor, nichts zur Linderung ihrer Not unternommen zu
haben. Im Stadtteil Petionville protestierten am Mittwoch etwa 300 Menschen
vor dem Rathaus und beschuldigten die Bürgermeisterin,
Lebensmittelgutscheine der Hilfsorganisationen verkauft zu haben, statt sie
gratis abzugeben.
Strategische Hilfe
Ex-Präsident Bill Clinton "wird die
Soforthilfe und den langfristigen Wiederaufbauprozess strategisch führen",
sagte UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon am Mittwochabend in New York. Er habe
ihn gebeten, die Aufgabe zu übernehmen, "und Clinton hat zugestimmt".
Regensaison setzt bald ein
Das Erdbeben der Stärke 7,0 hatte am
12. Jänner Port-au-Prince und Gebiete westlich der Hauptstadt zerstört. Da
die Regensaison bald einsetze, seien Notunterkünfte das Wichtigste, sagte
Ban. UNO-Angaben zufolge haben bisher 10.000 Familien Zelte und weitere
15.000 große Planen erhalten. 15.000 Zelte lägen bereit zum Verteilen und
40.000 seien auf dem Weg. Ex-Präsident Clinton soll am Freitag nach Haiti
fliegen, um mit seiner neuen Aufgabe zu beginnen. Darüber hinaus werde er
wie bisher nach Sponsoren suchen, die das schon vor dem Erdbeben ärmste Land
der westlichen Hemisphäre beim Aufbau unterstützen.
Anklagen wegen Kindesentführung
Die Staatsanwaltschaft
wollte am Donnerstag entscheiden, ob sie gegen zehn US-Bürger Anklage wegen
Kindesentführung erhebt. US-Außenministerin Hillary Clinton sprach von einer
"unglücklichen" Angelegenheit. Bei den Verdächtigen handelt es sich um eine
Gruppe von US-Baptisten, die 33 haitianische Kinder im Alter zwischen zwei
Monaten und 14 Jahren ohne Genehmigung außer Landes bringen wollten. Sie
wurden vor einer Woche an der Grenze zur Dominikanischen Republik
festgenommen. Die US-Organisation New Life Children's Refuge betonte die
guten Absichten ihrer Mitglieder. Die Kinder seien bei dem Erdbeben Waisen
geworden oder auf sich gestellt. Inzwischen stellte sich heraus, dass viele
der Kinder noch Eltern oder Angehörige haben. Sie wurden in einem
SOS-Kinderdorf in Port-au-Prince untergebracht.
Bewohner des Dorfs Callebas erklärten unterdessen der Nachrichtenagentur AP, sie hätten den Missionaren die Kinder mitgegeben, weil sie sie selbst nicht ernähren könnten. "Meine Hauptsorge ist, dass ich sie nicht versorgen kann, wenn die Kinder zurückkommen", sagte Laurentius Lelly, ein 27-jähriger Computertechniker, der den Baptisten seine zwei Kinder überließ. Die Leiterin der christlichen Gruppe, Laura Silsby, hatte dagegen erklärt, die Kinder kämen aus Waisenhäusern oder seien von entfernten Verwandten übergeben worden.
Alle Adoptionen gestoppt
Die haitianische Regierung hat alle
Adoptionen gestoppt, die nicht schon vor dem Beben eingeleitet waren. Zu
groß ist die Befürchtung, dass verwaiste oder von ihren Familien getrennte
Kinder mehr denn je in Gefahr sind, verschleppt und verkauft zu werden. Ohne
Papiere und ohne Versuche, die Familie ausfindig zu machen, könnten sie für
immer von Angehörigen getrennt werden, die willens und in der Lage wären,
für sie zu sorgen.