ÖSTERREICH-Korrespondent Herbert Bauernebel hielt die erschütterndsten Szenen fest.
Tag 1: Ich lande mit dem Flieger aus New York in der Dominikanischen Republik. Es geht los.
Tag 1: Mit dem Propellerflieger ins Bebenzentrum
Hektik am
Privatflughafen in Santo Domingo (Dominikanische Republik). Hunderte
Reporter ringen um Flüge nach Port-au-Prince. Ich habe Glück, 500 Dollar in
Cash kostet das Ticket. Einfachflug. Sieben Kollegen passen in die
Piper-Propellermaschine. Ich werde auf den Kopilotensitz eingewiesen: „Meine
Damen und Herren, hier spricht Ihr Kopilot“, scherze ich. Gekicher. Doch wir
alle sind nervös. Niemand weiß, was uns nach der Landung erwartet. Bei der
Anreise aus New York hörte ich nichts als Horror-Storys über Mörderbanden.
Eine Stunde lang kreisen wir über dem demolierten Port-au-Prince-Flughafen. Drei US-Soldaten mit Funkgeräten agieren als Lotsen. Der Pilot bittet mich, nach anderen, ebenso kreisenden Jets Ausschau zu halten. Um 10.20 Uhr melde ich mich per SMS in Wien: „Bin in Port-au-Prince“.
Prompt geraten wir ins erste Handgemenge. Zwei Haitianer streiten, wer unser Übersetzer sein darf. Sie ziehen an unseren Armen. Mit zwei Kollegen ergattere ich ein Taxi. Die Fahrt offenbart erstmals das ganze Ausmaß des Grauens: Ein kollabiertes Gebäude neben dem anderen, überall Leichen, herumirrende Menschenmassen, schlimmer, als ich es mir ausmalte.
Wir erreichen das Luxus-Hotel La Villa Creole im Stadtteil Petionville. Ein Glückstreffer: Das Hauptgebäude ist zwar halb eingestürzt, doch der Rest der Anlage ist unversehrt, wirkt sogar idyllisch. Es gibt Wasser, Nahrung, Strom.
Ich besichtige das erste Lager. Im Park vor der Villa des Premiers haben einige Hundert der 1,5 Millionen Obdachlosen Zuflucht gefunden. Dort hockt Evelyn Pierre. Sie ist 27, ihre Brüste sind geschwollen. Ihr Baby wurde vor ihren Augen von einem Ziegel erschlagen. Ihr Mann starb am Arbeitsplatz. Nicht einmal Tränen hat sie mehr. Gerne würde ich ihr helfen. Aber wie?
Tag 2: Das Elend in den Lagern ist unerträglich
Ich liege im
Poolbereich des Hotelareals. Es ist kühl, 15 Grad. Ich zittere unter der
dünnen Decke. Als „Bett“ dienen Sitzpolster. Der Sternenhimmel ist
idyllisch. Plötzlich: Die Erde vibriert! Ein Nachbeben! Alle schießen hoch.
Selbst nach dem kleinen Erdstoß kann ich mir jetzt den Horror besser
vorstellen.
Am meisten leiden in den Lagern die Kinder. Eine Frau kümmert sich auf einem staubigen Fußballfeld im Parc St. Theresa um Dutzende ihrer Enkel. Sie war Straßenverkäuferin, zehrt jetzt vom eigenen Bestand. Ein paar Getränke hat sie noch. Und Lollipops. Niemand kam ihr bisher zu Hilfe.
Die Kinder starren mich an, berühren meine Haut. Sie sind fasziniert. Sie bitten um Wasser. Doch wenn ich einer Familie helfe, würden mich sofort Hunderte umringen. Ein junger Mann wird aggressiv: „Her mit dem Handy!“ Es ist Zeit zu gehen. Die Zustände sind bestialisch: Überall im Lager liegt Kot, es stinkt nach Urin. Nackte Frauen „duschen“ mit brauner Brühe. Ich habe Respekt vor den Haitianern: Stoisch, fast stolz, absolvieren sie ihren täglichen Kampf ums Überleben.
Ich stehe vor der Ruine des Hotel Montana, einst als feinste Absteige die gesellschaftliche Drehscheibe der Metropole – jetzt ein Betongrab für Hunderte. Eine US-Retterin hockt am Boden, bricht unter Tränen zusammen. Überall Leichen, stammelt sie.
Tag 3: Die Massengräber vor Port-au-Prince
Wo landen die
Toten eigentlich? Ich fahre an den Ortsrand zum Nest Titanyen. Dort treffe
ich Lastwagenfahrer Joseph Mario (34). 14 Stunden pro Tag pendelt er
zwischen der Stadt und den Steppen außerhalb. Seine Fracht: Leichen. Er
kippt sie in die frisch gegrabenen Löcher. 150 Tote pro Fahrt. Im Schnitt.
Seine eigene Frau starb in seinen Armen. Doch fast pflichtbewusst sagt er:
„Ich begrabe meine Brüder hier.“ Irgendwer müsse es ja tun. Der Ort ist
entsetzlich, der süße Leichengestank unausstehlich. In den Gruben stapeln
sich, grotesk verrenkt, die Leichen. Mir ist übel.
Ich telefoniere mit meiner Frau Estee, die in New York mit unseren Kindern Max (7) und Mia (2) bangt. Als Familienvater sind solche Einsätze noch schwerer. Der Anblick toter, verwundeter oder hungernder Kinder zerreißt mir das Herz. Estee erzählt mir, dass Mia aus Solidarität ebenfalls am Boden schlafen wollte. Mir kommen die Tränen vor Rührung – und Heimweh.
Im Hotel treffe ich einen US-Arzt: Er erzählt, wie er den ganzen Tag Gliedmaßen amputierte. In einem normalen Spital ließen sich die Wunden leicht behandeln, doch hier fehlte es am Nötigsten. Die Wahl: Amputation oder Tod durch Blutvergiftung.
Tag 4: Ermordete mit gespaltenem Schädel
Schlaflose Nacht
Nr. 3: Albträume, Hundegebell. Am Weg zum UN-Zentrum liegen an der
Delmas-Straße zwei Ermordete. Eine Frau und ein Teenager. Sein Schädel ist
offen, Blut und Gehirn rinnt auf den Asphalt. Diebe hätten sie
abgeschlachtet, heißt es. Minuten später sehe ich einen Jugendlichen
splitternackt durch die Straße irren. Sein Penis baumelt bei jedem Schritt.
Er hat offenbar den Verstand verloren. Überall türmt sich der Müll, es
stinkt nach Leichen, Kot, Urin, Schweiß. Was für ein Inferno! Dann nehmen
wir auch noch die falsche Abzweigung, landen im Bandenviertel der Stadt.
Tausende laufen mit Stöcken herum. Der Weg für unser Auto wird immer enger,
die Massen aggressiver. Ich habe Todesangst, drehe um. Vorsichtig: Wenn ich
jemand anfahre, würde mich die Masse wohl lynchen. Im Hotel muss ich mich
übergeben.
Am Nachmittag dann doch ein Wunder: 117 Stunden nach dem Beben stehe ich vor der Ruine des UN-Hauptquartiers, als der Däne Jens Christensen von US-Suchtrupps geborgen wird. Er überlebte in Zimmer 309. Ich rufe ihm zu: „Wie geht es dir?“ „Toll“, ruft er zurück. Doch gleich daneben wieder unerträgliche Tragik: Auf einem Plastiksessel sitzt der UN-Mann Marc-André Franche. Seine Freundin liegt seit Dienstag im Schutt. Er weint bitterlich, als sie den geretteten Dänen vorbeitragen. Gibt es doch noch Hoffnung? Im Hotel funktioniert das Internet wieder: Ich sehe endlich meine Familie im Skype-Video-Chat. Mia will den Computer umarmen.
Tag 5: Die vergessenen Opfer von Leogane
Wie kann ich schlafen?
Horrorbilder spuken durch meinen Kopf. Immer die gleichen: Die
aufgedunsenen, gelb-braunen, halb verfaulten Köpfe. Die Arme, die aus dem
Schutt ragen. Die Blicke der Kinder. Dazu hallen Schüsse durch die Nacht.
Eine Story noch – und dann nichts wie weg! Wir fahren ins Epizentrum des
Bebens, der 50.000 Einwohnerstadt Leogane. Am Weg sehen wir einen Toten mit
abgetrennten Füßen. Die Stadt sieht aus wie nach einem Flächenbombardement.
Es gibt kaum Hilfe hier. Ein Mann kurvt mit seiner schwangeren Frau, die
sich das Bein brach, auf einem Motorrad umher. Er sucht ärztliche Hilfe.
Später führt uns ein Ärzteteam aus Alabama in eine Zeltstadt. Als Schienen für Knochenbrüche bringen sie Holzplanken mit. Eine junge Frau röchelt unter einer Zeltplane. Ein „Anfall“, diagnostiziert eine Ärztin. Die US-Ärzte können nur ihren Namen notieren für die spätere Abholung. Doch sie könnte schon tot sein, wenn wir das Lager verlassen.
Es reicht: Mit einem Kollegen nehme ich ein Taxi an die Grenze. „DR!“ (für Dominikanische Republik), texte ich nach der Überquerung der Grenze an Estee. „Thank God“, schreibt sie zurück. Ich bin sicher.