ÖSTERREICH in Haiti
Meine 24 Stunden in der Hölle
16.01.2010
Seit drei Tagen lebt ÖSTERREICH-Reporter Herbert Bauernebel in Port-au-Prince, der Stadt der Toten. Sein Tagebuch aus der Beben-Hölle..
6.12 Uhr: Leben in Angst. Wieder ging eine Nacht neben dem Hotelpool zu Ende. Aus Angst vor Nachbeben schlafe ich im Freien vor dem Hotel. 50 Meter entfernt ist ein Lager für Verletzte – das Weinen der Kinder hört nicht auf.
9.05 Uhr: Leichen und Verwundete. Die Stadt ist ein einziger Friedhof. Alle paar Straßen kommt man an ‚Sammelstellen‘ für Tote vorbei. Tausende Kinder, Frauen und Männer liegen auf- und nebeneinander.
Viele sind eingewickelt in weiße Säcke, ein Schwarm Fliegen lässt sich auf den versteinerten Gesichtern nieder. Es stinkt bestialisch. Das Abholen der Toten geschieht meist in Eigenregie. Morne Cecir (45) hat einen Leichenwagen gemietet, holt ihre tote Schwester und deren zwei Kleinkinder ab. „Ich habe alles verbliebene Geld dafür ausgegeben“, sagt sie. „Mehr können wir nicht tun“, beklagen die Helfer
Ich besuche das Verletzten-Lager vor dem Hotel La Villa Creole. Die Menschen liegen auf dem Boden. Dazwischen tiefe Blutlachen. Eine alte Frau, gut 75 Jahre alt, röchelt auf einer Bahre. Sie hat tiefe Schürfwunden im Gesicht und Knochenbrüche – ihre Arme sind komplett verdreht. Eine der Krankenschwestern schüttelt den Kopf: „Wir haben sie stabilisiert, ihr Schmerzmittel gegeben, mehr können wir nicht tun.“
Helfer wie Überlebende sind erschöpft. In der Hotel-Lobby stapeln sich die Boxen mit Medikamenten. Ein Arzneischrank wurde aufgestellt. „Hoffnung für Haiti“ steht auf dem Schild. Zynisch wirkt das.
10.30 Uhr: Flüchtlingslager. Madelaine Bandir (52) hockt auf einer abgewetzten Matte in einem der Flüchtlingslager. Wo man hinsieht: Elend. Kinder, die nackt herumlaufen. Kot liegt in den schmalen Gängen neben verdorbenen Essensresten. Die obdachlose Bandir ist umringt von Kindern: Sie selbst hat zehn, jetzt kümmert sie sich auch um die Enkel: „Wir sind hungrig und durstig.“
Die Großfamilie lebt von dem, was Bandir früher auf der Straße verkaufte: In einem Plastikkübel liegen Getränke: Fünf Bierflaschen, vier Sprite. Zum Essen sind nur Zuckerl da. Wie lange sie es noch durchhalten? „Das weiß nur Gott“, sagt sie leise.
12.45 Uhr: Tankstelle. Die Geduld, mit der die Haitianer die Tragödie ertragen, geht zur Neige. Vor allem vor den Tankstellen kommt es zu brutalen Schlägereien. An der Total-Tankstelle in der Avenue Pan American stehen 100 Überlebende mit Kübeln. Sie stoßen und schreien. Ein Polizist steht daneben, er muss nicht eingreifen – noch. Immer häufiger erlebt man Menschen oder gar Banden, die mit Gewalt versuchen, an Nahrung oder Treibstoff zu kommen.
13.45 Uhr: Hotel Montana. Das Montana war das feinste Hotel der Stadt, eine gesellschaftliche Drehscheibe. Jetzt ist es bekannt in aller Welt als „Hotel des Todes“. Die Zimmer sind nur mehr Betontrümmer. Davor stehen noch etliche Koffer. Die Eigentümer sind wahrscheinlich tot. 80 Leichen wurden bisher gefunden, 120 Personen werden noch vermisst.
15.30 Uhr: Im Kinderspital. Ich stehe vor dem Kinder-Krankenhaus, besser: den Überresten davon. Es hatte einen guten Namen in der Stadt. Mit Hämmern und Schaufeln wird nach Toten gegraben. Am Rande der Schuttberge liegen Kinderzeichnungen. Eine Helferin eines Suchtrupps aus dem US-Staat Virginia hockt am Boden, streichelt einen Hund. Tränen schießen aus ihren Augen.
17.00 Massengrab. Ich besuche ein Massengrab außerhalb der Stadtgrenze. Ich versuche gerade, die wahre Bedeutung der ausgehobenen Löcher zu begreifen. Plötzlich bebt die Erde. Es ist das heftigste Nachbeben seit Dienstag. Überall sind wieder Schreie zu hören, die Menschen um mich fallen auf die Knie. Bald ist es vorbei, zum Glück ist in meiner Nähe niemand verletzt worden. Doch jeder weiß: Schon bald kann der nächste starke und gefährliche Erdstoß kommen.