ÖSTERREICH-Report
Opfer fliehen aus Beben-Hölle
22.01.2010
Keine Entspannung auch am Tag Zehn nach dem Haiti-Todesbeben: Die Lage unter den Obdachlosen ist brenzlig.
Geschätzte 1,5 Millionen Obdachlose drängen sich zwischen den Ruinen der Hauptstadt Port-au-Prince in hastig errichteten Camps. Ihre Lage ist verheerend. Trotz verbesserter Logistik am Flughafen, der zum „Flaschenhals“ der internationalen Hilfsoperation wurde, fehlt es in den Camps an Wasser und Nahrung. „Wir haben Hunger, wir verdursten“, rufen verzweifelte, abgemagerte Beben-Opfer TV-Teams zu.
500 solcher Camps wurden bisher entdeckt, 472.000 Beben-Flüchtlinge hausen dort. „Die Menschen zeigen gigantischen Überlebenswillen”, so Fredy Rivera vom Hilfswerk Austria International. Die größte Hilfsaktion seit dem Asien-Tsunami begann mit einem Fehlstart: Die durchschnittliche Wartezeit auf ärztliche Behandlung liegt immer noch bei 12 Tagen. Tausende Opfer, die nur mehr durch Amputationen infizierter Gliedmaßen gerettet werden könnten, sind dem Tod geweiht. Dabei operieren Ärzteteams rund um die Uhr: Ärzte ohne Grenzen etwa führt 130 Eingriffe pro Tag durch. Wegen des Chaos am Flughafen warten noch 1.400 (!) Hilfsflüge auf eine Landeerlaubnis.
Direkt neben „Toiletten“ gibt es die Lebensmittel
Vor
allem Seuchen werden befürchtet: Der Großteil der Leichen, die tagelang auf
den Straßen lagen, sind zwar entfernt. 80.000 Opfer wurden in Massengräbern
am Stadtrand beigesetzt. Doch der Müll türmt sich immer höher. Und im Schutt
der Gebäude verrotten weiter Zehntausende Tote. Die Obdachlosen hinterlassen
Kot und Urin. Oft gleich daneben werden auf Straßenmärkten Geflügel und
Gemüse verkauft. „Wenn sich nur einer mit der Cholera infiziert, ist ein
Massenausbruch garantiert”, so der US-Doktor Anthony Paul zu ÖSTERREICH.
Erste Bilanz: 200.000 Tote, nur 190 lebend gerettet
In ihrer
totalen Verzweiflung versuchen die Haitianer die Flucht aus der Todesstadt:
200.000 zwängten sich laut Hilfsorganisationen in Busse, Hunderte ruderten
mit Booten auf die See, 8.000 stürmten ein Fährschiff. Die Regierung Haitis
plant die Umsiedlung von 400.000 Menschen in Vororte. „Dort sollen sie
angemessene Betreuung erhalten“, so Präsidentensprecher Fritz Longchamp. Doch
der Bau der Auffanglager bedarf Zeit. Experten schätzen den Finanzbedarf zum
Wiederaufbau von Port-au-Prince auf sieben Milliarden Euro.
Die Schätzung der Todesopferzahl der schlimmsten Bebentragödie aller Zeiten steht weiter bei 200.000. Die Suche nach Überlebenden durch 1.600 Rettungsspezialisten in den Ruinen ist fast aussichtslos: Immerhin konnte gestern eine 69-Jährige lebend geborgen werden, doch ihr Zustand war äußerst kritisch. 190 Menschen schenkten die Teams das Leben, darunter der „Wunderknabe von Haiti“, der siebenjährige Kiki Joachin. Er hatte acht Tage in einem Hohlraum überlebt. Sein eingefallenes Gesicht strahlte bei der Rettung, das Foto rührte die Welt.
Doch inmitten des Horrors gibt es auch Zeichen einer leichten Normalisierung: Vor den Banken bildeten sich Menschenschlangen für die ersten Geldüberweisungen. 13.000 US-Soldaten liefern Wasser und Nahrung in die Stadt, eine C-17-Cargomaschine warf Hilfsgüter in den schwer zugänglichen Beben-Regionen ab. Sogar einige Friseur-Salons öffneten ihre Pforten.