Nach Schüssen
Bundesheer nimmt Rettungsaktion im Erdbebengebiet wieder auf
11.02.2023Nach einer kurzzeitigen Einstellung der Rettungsaktion wegen der "schwierigen Sicherheitslage" macht das Bundesheer jetzt wieder weiter.
Istanbul/Gaziantep/Idlib. Die Suche nach Verschütteten im Erdbebengebiet in der Türkei und Syrien wird immer schwieriger. Die Hoffnung, fünf Tage nach dem verheerenden Beben mit bereits fast 25.500 Toten noch Überlebende aus den Trümmern zu retten, schwindet mit jeder Minute mehr. Zudem musste etwa das österreichische Bundesheer seine Rettungsaktionen aufgrund einer zunehmend schwierigen Sicherheitslage drastisch reduzieren.
Nach einer kompletten Unterbrechung der Arbeiten durften zwei Hundeführer mit ihren Tieren Samstagnachmittag wieder nach Vermissten suchen, wie das Bundesheer der APA sagte. "Momentan hat die türkische Armee den Schutz unseres Kontingents übernommen", sagte Marcel Taschwer, Sprecher des Verteidigungsministeriums. Der Schutz der Türken könne in einem gewissen Bereich gewährleistet werden, so Taschwer. Denn die gefährlichen Rahmenbedingungen an Ort und Stelle hätten sich nicht verändert.
Situation wird laufend evaluiert
Die Situation werde laufend evaluiert. Noch sei nicht abzuschätzen, ob der Rest der Soldaten und Soldatinnen bald wieder eingesetzt werden könnte. Insgesamt seien sechs Hundeführer mit ihren Vierbeinern in der Türkei. Samstagfrüh musste die Truppe ihre Suche nach verschütteten Menschen im Krisengebiet stoppen. "Der erwartbare Erfolg einer Lebendrettung steht in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem Sicherheitsrisiko", sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis Samstagvormittag der APA. Auch Deutschland pausierte seinen Einsatz.
"Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein", so Kugelweis. Die österreichische Katastrophenhilfseinheit halte sich nach Informationen des Bundesheeres gemeinsam mit zahlreichen anderen Hilfsorganisationen in einem Basiscamp in der türkischen Provinz Hatay bereit. Seit Dienstag waren 82 Soldaten und Soldatinnen der sogenannten Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) im Einsatz und bargen bisher neun verschüttete Menschen. Seit den frühen Morgenstunden am Samstag kam es nun aufgrund der Sicherheitslage zu keinen Rettungsaktionen mehr.
"Wir stehen bereit für weitere Einsätze"
"Wir halten unsere Rette- und Bergekräfte weiter bereit. Wir stehen bereit für weitere Einsätze", so Kugelweis. Auch am Zeitplan - die Rückkehr nach Österreich war für Donnerstag geplant - ändere die aktuelle Situation laut aktuellen Angaben nichts. "Es gab keinen Angriff auf uns Österreicher. Es geht uns allen gut", so der Oberstleutnant. Die Stimmung unter den Helferinnen und Helfern sei der Situation entsprechend gut. "Wir würden gerne weiterhelfen, aber die Umstände sind, wie sie sind."
Auch das deutsche Technische Hilfswerk (THW) und die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany unterbrachen wegen Sicherheitsbedenken ihre Rettungsarbeiten. In den vergangenen Stunden habe sich nach verschiedenen Informationen die Sicherheitslage in der Region Hatay geändert, teilten die Organisationen am Samstag mit. Such- und Rettungsteams blieben vorerst im gemeinsamen Basislager in der Stadt Kirikhan. Wenn es einen konkreten Hinweis gebe, dass man jemand lebend retten könne, werde man aber dennoch hinausfahren, sagte die THW-Sprecherin Katharina Garrecht.
Bereits zuvor sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dass in einigen Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt wurde. Menschen, die Märkte plünderten oder Geschäfte angriffen, sollten so leichter bestraft werden. Allerdings stieg in der Bevölkerung auch Wut und Verzweiflung über die zu langsam angelaufenen Hilfsaktion der offiziellen Behörden. Es soll zu Aufständen gekommen sein.
Fast 22.000 Tote in der Türkei geborgen
Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte das eine entscheidende Rolle spielen, ob sich Erdogan im Amt halten kann. Am Freitag räumte er bei einem Besuch im Katastrophengebiet ein, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet worden sei wie gewünscht.
Unterdessen steigt die Zahl der Toten nach dem schweren Beben immer weiter. Allein in den betroffenen Gebieten in der Türkei wurden fast 22.000 Tote geborgen, teilte Erdogan Samstagmittag mit. Etwa 80.000 Verletzte würden in Krankenhäusern behandelt, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay.
In Syrien wurden mehr als 3.500 Todesopfer gemeldet. Viele Menschen werden noch unter den Trümmern vermisst. Etwa 24,4 Millionen Menschen sind der Türkei zufolge von den Erdbeben betroffen. Über eine Million Menschen hätten kein Dach mehr über dem Kopf und seien in Notunterkünften untergebracht, sagte Vizepräsident Oktay. "Unser Hauptziel ist es, dass sie zu einem normalen Leben zurückkehren können", sagte er. Dazu sollten innerhalb eines Jahres Wohnungen wieder aufgebaut werden. Hunderttausende Gebäude seien nicht mehr bewohnbar, sagte Erdogan.
Fast 1.900 Nachbeben registriert
Insgesamt wurden in der Türkei laut den Behördenangaben fast 93.000 Menschen aus den Erdbeben-Gebieten herausgebracht. Mehr als 166.000 Einsatzkräfte seien an den Rettungs- und Hilfseinsätzen beteiligt. Seit dem ersten Beben Montag früh seien fast 1.900 Nachbeben registriert worden.
Das betroffene Gebiet erstreckt sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet. Unzählige Menschen müssen bei eisigen Temperaturen im Freien, in ihren Autos oder in Zeltnotlagern ausharren, weil sie obdachlos wurden oder ihre Häuser einsturzgefährdet sind. Vielerorts mangelt es an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten.
Zur besseren Versorgung der Überlebenden öffnete die Türkei einen Grenzübergang zu Armenien - trotz einer tiefen Feindschaft zum Nachbarland, berichtete Anadolu Ajansi. Fünf Lastwagen passierten mit humanitärer Hilfe einen Grenzposten in der türkischen Provinz Igdir. Zuletzt sei das 1988 nach einem Beben in der Ex-Sowjetrepublik Armenien möglich gewesen. "Lassen Sie uns etwas Gutes aus dieser großen Katastrophe herausholen. Solidarität rettet Leben!", twitterte der türkisch-armenische Politiker Garo Paylan. Die Landgrenze zwischen der Türkei und Armenien ist seit 1993 geschlossen. Das Verhältnis zwischen Ankara und Eriwan ist sowohl aus historischen Gründen als auch wegen des Konflikts um die Gebirgsregion Berg-Karabach schwer belastet. Die beiden Nachbarn unterhalten aber seit Ende 2021 wieder diplomatische Kontakte.
Hilfseinsatz in Syrien besonders schwierig
In Syrien ist der Hilfseinsatz besonders schwierig. Das Land steckt seit fast zwölf Jahren im Bürgerkrieg. Zur Erdbebenkatastrophenregion zählen Landesteile, die von der Regierung kontrolliert werden, aber auch Rebellengebiete. Am Freitag traf ein erster Hilfskonvoi der Vereinten Nationen im Norden Syriens ein. Das Welternährungsprogramm der UNO hatte zuvor gewarnt, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen. In dem Land kamen bei dem Beben mehr als 3.500 Menschen ums Leben.
Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, traf am Samstag in Syrien ein, wie die Staatsagentur Sana meldete. Demnach will er nun Krankenhäuser und Notunterkünfte besuchen, um sich ein Bild der Lage zu machen. Er habe zudem 35 Tonnen medizinischer Ausrüstung für die Erdbebenopfer mitgebracht. Ein weiteres Flugzeug mit medizinischem Gut soll demnach innerhalb der nächsten zwei Tage im Land eintreffen.
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen will auch die Hilfsorganisation Jugend Eine Welt ihre Aktivitäten im Krisengebiet verstärken. Wolfgang Wedan, Koordinator der Globalen Nothilfe der Organisation, war Samstagfrüh am Weg in ein Krankenhaus in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Danach war die Besichtigung der stark zerstörten Stadt Aleppo geplant. Ziel sei es, "die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen, um die bestmögliche Hilfe für die notleidenden Menschen auf die Beine zu stellen", so Wedan.
Zwei Frauen 122 Stunden nach Beben gerettet
Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften aber auch fünf Tage nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. 122 Stunden nach den Erdbeben wurden in der Türkei zwei Frauen gerettet. Wie auf Bildern der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi zu sehen war, wurde eine 70-Jährige in der Provinz Kahramanmaras in eine Decke gehüllt in einen Rettungswagen getragen. Eine 55-Jährige wurde in Diyarbakir lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen. Zahlreiche weitere Opfer wurden unter den Trümmern Tausender eingestürzter Häuser immer noch befürchtet.
Am frühen Montagmorgen hatte zunächst ein Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert, bevor zu Mittag ein weiteres Beben der Stärke 7,6 folgte. Da Menschen nur in seltenen Fällen länger als drei Tage ohne Wasser überleben können und die Vermisstenzahlen noch immer sehr hoch sind, ist zu befürchten, dass die Opferzahlen noch drastisch steigen dürften. UNO-Nothilfekoordinators Martin Griffiths bezeichnete am Samstag das verheerende Erdbeben als das "schlimmste Ereignis seit 100 Jahren in dieser Region".