Europäische Union

Entzug zu radikal? EU berät über Ungarns Ratsvorsitz

16.07.2024

Orbans umstrittene Reisen nach Moskau und Peking waren der Auslöser für die Debatte. Ein Entzug der Präsidentschaft gilt als zu radikal, auch der Entzug der Stimmrechte sowie ein Boykott informeller Sitzungen sind im Gespräch.

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Ungarns EU-Ratspräsidentschaft ist keine zweieinhalb Wochen alt. Doch schon gibt es angesichts des umstrittenen Agierens seines Ministerpräsidenten Viktor Orbán europaweit eine genervte Debatte, wie man mit der nationalkonservativen Fidesz-Regierung in Budapest weiter umgehen soll. EU-Spitzenpolitiker erklären, dass Orbán bei seinen Besuchen in Moskau und Peking sowie seinen Äußerungen zur Ukraine nicht für die EU, sondern nur für seinen 9,5-Millionen-Einwohner-Staat spricht.

Orbán hingegen erweckt genau den entgegengesetzten Eindruck. Regierungsfilme seiner Reisen enden mit dem Logo von Ungarns EU-Präsidentschaft - was von den autoritären Regimen in China und Russland auch propagandistisch ausgeschlachtet wird. Der "Flurschaden ist enorm", sagte jüngst der Sprecher des deutschen Außenministeriums in Berlin. Deshalb wird nun diskutiert, was man tun sollte. Eine Antwort ist auf mehreren Ebenen möglich.

Entzug der EU-Ratspräsidentschaft

Die radikalste Variante hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer gegenüber Reuters vorgeschlagen, der den Entzug der rotierenden, halbjährigen EU-Ratspräsidentschaft gefordert hat. Das müssten aber 20 der 27 Regierungen unterstützen, die zudem 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten müssten. Dann kann die Agenda der EU geändert werden - was übrigens beim Austritt Großbritanniens aus der Union schon einmal der Fall war. Entweder könnte Belgien die Verantwortung übernehmen, weil das Land von Jänner bis Ende Juni ohnehin an der Reihe war und über ein eingespieltes Team verfügt. Oder aber Polen, das am 1. Jänner 2025 übernimmt, würde früher einsteigen.

Der Vorteil: Für alle Welt wäre klar, dass Orbán nur für sich spricht. Der Nachteil: In EU- und Regierungskreisen wird darauf verwiesen, dass die drastische Maßnahme auf den Widerstand kleiner Länder mit umstrittenen Regierungen wie etwa die der Slowakei stoßen könnte. Diese könnten fürchten, irgendwann selbst von einem solchen Schritt getroffen zu werden. "Das Schlimmste wäre, wenn sich dann keine Mehrheit findet und die EU gespalten wäre", sagt ein EU-Diplomat.

Entzug der Stimmrechte Ungarns

63 Abgeordnete des neuen Europäischen Parlaments forderten die EU am Dienstag auf, Ungarn das Stimmrecht in der Union zu entziehen. Dieser Schritt wäre kaum weniger drastisch als der Entzug der Ratspräsidentschaft. Denn die Regierung in Budapest könnte dann bei wichtigen Entscheidungen im Kreis der EU-27 nicht mehr mitstimmen. Die Abgeordneten kritisieren auf der Plattform X, dass Orbán seine Kompetenzen missbraucht und deshalb Schaden angerichtet habe. Bloße verbale Verurteilungen hätten bei diesem Politiker keine Wirkung.

Die Krux: Der Entzug der Stimmrechte geht stark in Richtung Rauswurf aus der EU, woran auch die Partner kein Interesse haben. In der deutschen Bundesregierung wird betont, dass Ungarn ohnehin nicht willkürlich die Tagesordnungen der Ratssitzungen bestimmen könne. Falls die anderen Regierungen über andere Themen reden wollen, könnten sie dies tun. Die Hauptblockade-Möglichkeit Ungarns wird in der Steuer- und Außenpolitik bei der dort nötigen Einstimmigkeit der EU-27 gesehen. Orbán hat bereits mehrfach sein Veto gegen ungeliebte Entscheidungen eingesetzt und die EU-Politik damit deutlich verzögert.

Boykott der informellen EU-Räte

Die formellen Ratstreffen auf Minister- und Chefebene finden in Brüssel statt. Die jeweilige EU-Ratspräsidentschaft lädt aber daneben zu informellen Ratstreffen in das eigene Land ein. Länder wie Schweden oder Litauen haben bereits angekündigt, dass sie aus Protest zu solchen Treffen keine Ministerinnen oder Minister schicken würden. Stattdessen würden Beamte entsandt, um ein Zeichen zu setzen.

Eine Alternative wäre, gar nicht anzureisen. Aber EU-Diplomaten sagen, "kritisieren statt boykottieren" wäre der bessere Weg. Eine Alternative könnte auch sein, dass die EU-Kommission parallel zu den angesetzten informellen Treffen in Ungarn formale Räte in Brüssel ansetzt - zu denen dann die Ministerebene reisen müsste. Dies sei in Brüssel aber derzeit nicht geplant, heißt es.

EU-Kommission zeigt Missfallen

Neben den 27 EU-Regierungen muss sich auch die EU-Kommission überlegen, wie sie reagiert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am Montag erstmals angeordnet, dass keine Kommissarinnen und Kommissare mehr nach Ungarn reisen sollen. Auch die Kommission will nur noch auf Fachebene vertreten sein, um ein Zeichen zu setzen. Von der Leyen verzichtet zudem auf die übliche Reise der EU-Spitzen in das Land der jeweiligen Präsidentschaft.

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