Überraschend zieht sich die israelische Armee aus Gaza zurück. Die Hamas sieht sich als Siegerin.
Nach einer der blutigsten israelischen Militäroperationen im Gaza-Streifen hat die in dem Gebiet herrschende radikale Palästinenser-Organisation Hamas am Montag ungebrochene Kampfbereitschaft demonstriert. Militante Palästinenser feuerten auch nach dem Rückzug israelischer Truppen wieder Raketen auf die Küstenstadt Ashkelon und auf Sderot. Tausende Hamas-Anhänger feierten den Rückzug der israelischen Armee als "Sieg". Die am Montagmorgen beendete Operation "Heißer Winter" hatte die höchsten Opferzahlen seit dem Sechstagekrieg von 1967 gefordert. Nach palästinensischen Angaben wurden seit vergangener Woche 117 Palästinenser getötet und 350 weitere verletzt.
Weiter Raketen auf israelische Städte
Seit den
Morgenstunden feuerten militante Palästinenser wieder Raketen auf
israelische Städte, darunter auch "Grad"-Raketen mit größerer
Reichweite. In Ashkelon wurde nach Medienberichten ein Haus getroffen und
eine Schwangere verletzt. Israels Verteidigungsminister Ehud Barak sagte,
der Militäreinsatz habe "den Terrororganisationen einen sehr
schweren Schlag versetzt". Man könne das Problem der Raketenangriffe
allerdings nicht auf einen Schlag lösen.
Friedensgespräche ausgesetzt
Der palästinensische Präsident
Mahmoud Abbas, der angesichts der hohen Opferzahlen die erst im Jänner
wieder aufgenommenen Friedensgespräche mit Israel ausgesetzt hat, sprach
sich am Montag für eine Waffenruhe aus. US-Außenministerin Condoleezza Rice
wurde am Dienstagabend zu einem Besuch in Israel erwartet. Der ranghohe
Hamas-Funktionär und Ex-Außenminister Mahmoud Zahar kündigte Rache für den
israelischen Einsatz im Gaza-Streifen an. Hamas werde im Falle einer neuen
Bodenoffensive israelische Soldaten entführen und "keine Gnade"
kennen. Der israelische Staatspräsident Shimon Peres warf der Hamas vor,
palästinensische Frauen und Kinder als lebende Zielscheiben zu missbrauchen.
Hamas schieße absichtlich Raketen aus dicht bevölkerten Gebieten ab und
nehme deshalb zivile Opfer in den eigenen Reihen in Kauf.
US-Regierung drängt auf Wiederaufnahme der Gespräche
Die
US-Regierung will den palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas und den
israelischen Regierungschef Ehud Olmert zu einer möglichst raschen
Wiederaufnahme der Friedensgespräche drängen. Dies sei eines der Ziele von
Außenministerin Condoleezza Rice, die am Montagvormittag (Ortszeit) aus
Washington in den Nahen Osten abflog. Die Botschaft Amerikas an die
Palästinenser sei klar: Sie hätten "die Wahl zwischen Terrorismus oder einer
politischen Lösung, die dazu führt, dass ein palästinensischer Staat
friedlich und sicher an der Seite Israels existiert", sagte der Sprecher des
Nationalen Sicherheitsrates, Gordon Johndroe.
Israel müsste Palästinenser schützen
Die
UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, hat Israel auf seine
völkerrechtlichen Verpflichtungen als Besatzungsmacht gegenüber der
palästinensischen Bevölkerung hingewiesen. Israel habe die Pflicht, die
Zivilisten in den von Palästinensern bewohnten Gebieten zu schützen,
unterstrich die kanadische Juristin am Montag vor dem UNO-Menschenrechtsrat
in Genf. Die Vierte Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung in
besetzten Gebieten verbietet die Abriegelung, die Ansiedlung der
Zivilbevölkerung der Besatzungsmacht auf besetztem Gebiet sowie
Kollektivstrafen. In einem im Auftrag des UNO-Menschenrechtsrats erstellten
Bericht hat der südafrikanische Experte John Dugard den palästinensischen
Terrorismus als "unvermeidbare Folge" der israelischen Okkupation
bezeichnet. Die Schweiz als Depositärstaat der Genfer Konventionen hat einen
sofortigen Stopp der israelischen Militäroperationen verlangt. Als "unhaltbar"
bezeichnete Außenministerin Micheline Calmy-Rey vor dem
UNO-Menschenrechtsrat die gegenwärtige Situation der palästinensischen
Bevölkerung im Gaza-Streifen.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat Israel aufgefordert, die "unvorhersehbaren Angriffe" auf die palästinensische Zivilbevölkerung einzustellen. Die jüngsten Luftangriffe hätten Hunderte von Palästinensern obdachlos gemacht, hieß es in einer Erklärung des IKRK, das einen Hilfskonvoi von der jordanischen Hauptstadt Amman in den Gaza-Streifen geschickt hat. Das Rote Kreuz versuche, einen Korridor für Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen und in das Westjordanland mit den israelischen Behörden auszuhandeln.
EU will zur Entspannung beitragen
Die Europäische Union ist nach
den Worten ihres Außenbeauftragten Javier Solana bereit, einen Beitrag zur
Entspannung in der gegenwärtigen Nahost-Krise zu leisten, und verhandle über
eine Rückkehr der europäischen Beobachtermission an den derzeit
geschlossenen Grenzübergang Rafah zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten.
Solana sagte am Montag vor Journalisten in Jerusalem, eine Lösung sei
allerdings nur möglich, wenn die Hamas mit dem Beschuss israelischer
Grenzorte aus dem Gaza-Streifen aufhöre. Der Grenzübergang Rafah wurde nach
dem israelischen Abzug aus dem Gaza-Streifen 2005 von palästinensischen und
ägyptischen Beamten kontrolliert. EU-Beobachter werteten Video-Aufnahmen der
Grenzabfertigung aus. Israelische Soldaten in einem Kontrollzentrum konnten
aufgrund der Video-Aufnahmen Einspruch gegen die Abfertigung einzelner
Reisender erheben. Durch israelische Militäraktionen und systematische
Häuserzerstörungen waren in Rafah Tausende von Palästinensern obdachlos
geworden.