Auf der zentralen Kundgebung im Victoria Park ließ sich die Menge am Sonntag nicht einmal durch strömenden Regen abbringen.
Hongkong. Frau Yu hat die Kinder mitgebracht. Die Kleine, eineinhalb, trägt sie noch im Gurt. Die Vierjährige schiebt sie im Wagen vor sich her. Beide werden, wenn Hongkong im Jahr 2047 wieder ganz chinesisch sein soll, um die 30 sein. Und deshalb, findet Frau Yu, müssen sie bei einer Kundgebung für Freiheit und Demokratie unbedingt dabei sein. "Ich will, dass ihre Heimat ein Land bleibt, wo man seine Meinung sagen darf. Je mehr wir sind, desto sicherer."
So sahen das am Wochenende auch sehr viele andere Leute in der ehemaligen britischen Kolonie, die fast schon ein Vierteljahrhundert wieder zu China gehört, wenn auch mit vielen Sonderrechten. Allen Drohungen der Zentralmacht in Peking zum Trotz gingen von den 7,5 Millionen Hongkongern wieder Hunderttausende auf die Straße. Nach manchen Schätzungen waren es sogar deutlich mehr als eine Million.
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Für den Veranstalter, das Demokratiebündnis Civil Human Rights Front, ist das ein Erfolg. Manche hatten befürchtet, dass sich die Leute einschüchtern lassen und nach zweieinhalb Monaten Protesten langsam auch müde werden. Zudem kosteten die Jagdszenen vom Hongkonger Flughafen, wo Demonstranten vergangene Woche auf einen chinesischen Reporter losgingen, die Bewegung einige Sympathien.
Aber nein. Auf der zentralen Kundgebung im Victoria Park, einem der wenigen Parks in der ansonsten zubetonierten Innenstadt, ließ sich die Menge am Sonntag nicht einmal durch strömenden Regen abbringen. Als das Wasser vom Himmel kam, spannten alle nur die Regenschirme auf. Nach Hause ging niemand. Also doch wieder so eine Art Regenschirm-Revolte: So wurde Hongkongs nicht so erfolgreiche Demokratiebewegung vor fünf Jahren genannt.
Junge Generation äußert ihren Unmut
Wie damals werden die Proteste von der jüngeren Generation getragen. Die meisten sind jünger noch als Frau Yu mit ihren 29 Jahren. Die Mehrheit trägt schwarz, und viele haben eine Maske vor dem Mund. Das ist in Chinas Millionenstädten kein besonders ungewöhnliches Bild. Derzeit ist die Luft aber gar nicht so schlecht. Die Leute tragen Maske, falls die Polizei wieder Tränengas einsetzt. Und manche auch, damit sie nicht erkannt werden, auch nicht vom Arbeitgeber.
Richtig gut ist es um die Meinungsfreiheit in Hongkong nicht mehr bestellt. Man sieht das zum Beispiel daran, dass die Airline Cathay Pacific auf Druck aus Peking zwei Piloten entließ, die sich an Protesten beteiligt hatten. Eigentlich gilt der Grundsatz "Ein Land, zwei Systeme" immer noch - so wie beim Abzug der Briten 1997 für ein halbes Jahrhundert vereinbart. Das bedeutet auch demokratische Grundrechte wie Versammlungs-, Presse-und Meinungsfreiheit.
Die Hoffnung, dass sich die Volksrepublik wie Hongkong entwickeln würde, hat sich allerdings nicht erfüllt. Vielmehr ist es umgekehrt gekommen. In Hongkong sind sich viele nicht mehr sicher, ob es wirklich noch 28 Jahre dauern wird, bis sie komplett zur Volksrepublik gehören. Einige fordern deshalb jetzt sogar die Unabhängigkeit: einen eigenen Stadtstaat, so wie Singapur.
In den Protestmärschen sind nun auch schwarze Gestalten unterwegs, ganz vermummt und auch bereit, Krawall zu machen. Die Grundausrüstung dafür gibt es am Straßenrand für etwa 20 Euro zu kaufen: Gasmaske, Schutzbrille und Helm. Einer der radikalen jungen Männer, der sich Howard nennt, sagt: "Wir haben mit der Gewalt nicht angefangen. Das war die Regierung. Wir wehren uns nur. Vielleicht ist das unser letzter Kampf."
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Im Unterschied zu vielen früheren Tagen blieben Krawalle bis Sonntagabend (Ortszeit) jedoch aus. Die städtische Polizei setzte erstmals seit längerer Zeit auch kein Tränengas ein - auch nicht, als mehrere Hundert vermummte Demonstranten sie mit Laserpointern provozierten. Für die Behauptung, dass auf einer Pro-China-Kundgebung 108.000 Leute gewesen seien, erntete die Polizei allerdings großen Spott. Es waren wohl ein paar Tausend, mehr nicht.
Wie viele von den 7,5 Millionen hinter der Demokratiebewegung stehen und wie viele hinter der prochinesischen Regierung, kann derzeit niemand mit Sicherheit sagen. Und auch nicht, wie der Konflikt ausgehen wird. Vor allem bei vielen älteren Leuten gibt es inzwischen größeres Unbehagen - wegen der Gewalt der vergangenen Woche, aber auch, weil die Forderungen der jüngeren Generationen radikaler werden.
Der Pensionist Kem Kw sieht den Kundgebungen deshalb nur vom Gehsteig aus zu. "Meine Kinder und meine Enkelkinder marschieren mit", sagt der 65-jährige. "Aber für mich ist das nichts. Wir gehören zu China." Der ehemalige Ingenieur sorgt sich, dass in nicht allzu ferner Zeit doch die Armee zum Einsatz kommen könnte. "Wenn die Leute immer lauter nach Unabhängigkeit rufen, werden wir am Ende überhaupt nichts mehr von unseren Freiheiten haben."
Risiko bleibt: kommt es zur Eskalation?
Die Furcht vor einer blutigen Niederschlagung der Proteste wie 1989 am Platz des Himmlischen Friedens in Peking ist nicht übertrieben groß. Aber die Leute reden darüber schon - wohl wissend, dass Peking sich so etwas kurz vor den Feiern zum 70-jährigen Bestehen der Volksrepublik eigentlich nicht leisten kann.
Interessant wird nun, wie sich in der Finanz- und Wirtschaftsmetropole die Honoratioren verhalten. Auch das ist noch nicht klar. Der reichste Mann der Stadt, Li Ka-shing (91), schaltete dieser Tage zwei Anzeigen. In einer davon war das chinesische Zeichen für Gewalt mit einem Kreuz durchgestrichen. Die andere bestand aus einer einzigen Zeile eines 1.300 Jahre alten Gedichts: "Die Melone von Huangtai kann nicht noch eine Ernte ertragen."
Jetzt rätseln alle, was der Immobilien-Milliardär damit meint. Manche sind der Ansicht, dass Li zum Ausdruck bringen wollte, dass die Leute in Hongkong nicht noch mehr drangsaliert werden dürften. Andere sehen darin eine Mahnung, dass jedes weitere Aufbegehren Peking zu sehr herausfordern könnte. Hongkongs wichtigste englischsprachige Zeitung "South China Morning Post" sprach von einem "Meisterstück der Doppeldeutigkeit". Das hat in China Tradition und in Hongkong auch.