Nach dem AfD-Beben in Thüringen und Sachsen steht beiden Ländern eine schwierige Regierungsbildung bevor. Die AfD wird immer stärker - und Deutschland bald unregierbar?
Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen haben Deutschland zum Beben gebracht. Nie war eine Partei weit rechts von der Union so stark wie die AfD heute.
Einige Szenarien
Das bedeutet der AfD-Erfolg und so geht es jetzt weiter:
- Die AfD ist stark wie nie, aber sie wird ziemlich sicher nicht regieren! Keine deutsche Partei will mit der AfD koalieren.
- Das stabile deutsche Parteiensystem löst sich zunehmend auf! Gewohnte Koalitionen sind kaum noch möglich, immer schwieriger Bündnisse werden nötig. Wie lange geht das gut? Steht Deutschland bald gar vor der Unregierbarkeit - nicht nur im Osten?
- Die Bundesregierung wurde bitter abgestraft! Allein die Höcke-AfD ist in Thüringen mehr als doppelt (!) so stark wie alle drei Ampel-Parteien (SPD, Grüne, FDP) zusammen. Für Kanzler Olaf Scholz und seine Koalition in Berlin könnten die Ost-Wahlen der politische Sargnagel sein.
- Jetzt liegt es an der CDU! Nur die CDU kann in beiden Ländern eine Regierung zusammenbringen. Entweder mit schwierigen Mehrheiten oder eine Minderheitsregierung, die sich bspw. von der Linkspartei dulden lässt. Gelingt das den Christdemokraten, marschiert ihr Parteichef, Friedrich Merz, gerade aus aufs Kanzleramt zu - schneller als es Scholz liebt ist. Gibt es in einem der beiden Ländern keine schnelle Regierung, sondern gar Neuwahlen, könnte auch Merz im Bund noch straucheln.
Historische Veränderung
Erstmals in der Nachkriegsgeschichte ist mit der AfD eine als rechtsextrem eingestufte Partei bei einer Landtagswahl in Deutschland stärkste Kraft geworden. In Thüringen liegt sie nach Hochrechnungen von ARD und ZDF auf Platz eins. In Sachsen legte sie ebenfalls zu, landete aber knapp hinter der CDU. Aus dem Stand stark zweistellig wird in beiden Ländern das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Die Ampel-Parteien kassierten eine herbe Niederlage.
- Das ist das Phänomen Sarah Wagenknecht
- Ab sofort wackelt die deutsche Ampel-Regierung
- Jetzt geht es ums Berliner Kanzleramt
Höckes Sieg
In Thüringen steigerte sich die vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD von Spitzenkandidat Björn Höckenach dem vorläufigen amtlichen Ergebnis auf 32,8 Prozent (2019: 23,4 Prozent). Die CDU landet bei 23,6 Prozent (21,7). Aus dem Stand schafft das BSW 15,6 Prozent - und lässt damit die Linke von Ministerpräsident Bodo Ramelow weit hinter sich, die dramatisch auf 13,1 abstürzt (31,0).
Starke Verluste verbuchen die Parteien der Berliner Ampel-Regierung: Die SPD liegt mit 6,1 Prozent noch unter ihrem bisher schlechtesten Ergebnis in Thüringen von 2019 (8,2). Die Grünen scheiden mit 3,2 (5,2) aus dem Parlament aus, ebenso die FDP mit 1,1 Prozent (5,0). Ein Bündnis von CDU, BSW und SPD hätte keine Mehrheit.
Schwierige Situation in Sachsen
In Sachsen steht die CDU bei 31,9 Prozent (2019: 32,1 Prozent). Die AfD liegt knapp dahinter mit 30,6 Prozent (27,5). Das BSW, eine Abspaltung von der Linken, erreicht aus dem Stand 11,8 Prozent. Die SPD liegt bei 7,3 bis 7,4 Prozent (7,7). Die Linke erreicht 4,5 Prozent (10,4), zieht aber aufgrund des Gewinns zweier Direktmandate in den Landtag ein. Die Grünen sind mit 5,1 Prozent (8,6) weiter im Landtag vertreten. Die FDP verpasst erneut den Einzug ins Parlament - wie schon bei den vergangenen zwei Landtagswahlen. Alle Parteien, die unter fünf Prozent liegen, können es allerdings dann in den sächsischen Landtag schaffen, wenn sie zwei Direktmandate gewinnen. Der Linken gelingt das voraussichtlich.
Für die Ampel-Koalition in Berlin sind die Zahlen ein Desaster: Für die SPD wäre das Ergebnis in Thüringen das schlechteste Ergebnis bei einer Landtagswahl seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die FDP ist in keinem der beiden Landtage vertreten. Die Grünen erleiden in beiden Ländern deutliche Verluste.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert kündigte eine stärkere Profilierung der Sozialdemokraten an. Es gehe darum, "sich stärker zu emanzipieren". Man wolle sich "nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen von anderen, die krachend aus den Landtagen jetzt rausgewählt worden sind", sagte er mit Blick auf Auseinandersetzungen mit FDP und Grünen in der Ampel-Koalition im Bund.
Reaktion der Parteien
Aus Sicht von Grünen-Chef Omid Nouripour ist der Streit mit ein Grund für das schlechte Abschneiden der Ampel-Parteien. Man müsse sich "an die eigene Nase fassen".
FDP-Chef Christian Lindner schrieb auf der Plattform X: "Die Ergebnisse in Sachsen und Thüringen schmerzen. Aber niemand soll sich täuschen, denn wir geben unseren Kampf für liberale Werte nicht auf."
Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki forderte Konsequenzen für die Koalition im Bund. "Das Wahlergebnis zeigt: Die Ampel hat ihre Legitimation verloren".
BSW-Parteichefin Wagenknecht sprach von einem grandiosen Erfolg. Viele Menschen bewege das Thema Frieden zutiefst. Sie lehnten die geplante Stationierung weitreichender US-Raketen in Deutschland ab. Eine Landesregierung müsse diesen Wunsch berücksichtigen und sich auf Bundesebene dafür einsetzen. In Thüringen strebe sie kein Ministeramt an. Ihre Aufgabe sei es, das BSW mit einer starken Fraktion 2025 in den Bundestag zu führen.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wertete die Wahlen als Erfolg für seine Partei. Er sehe "eine echte verbliebene Volkspartei", sagte er. "Wir sind das Bollwerk."
Rot-rot-grüne Minderheitskoalition abgewählt
In Thüringen hat die bisherige rot-rot-grüne Minderheitskoalition unter Regierungschef Ramelow, die seit 2019 auf eine Zusammenarbeit mit der CDU angewiesen war, keine realistische Möglichkeit weiterzuregieren. Die AfD bleibt bei der neuen Regierung außen vor, denn die übrigen Parteien schließen eine Koalition aus.
Trotzdem sieht Thüringens AfD-Chef Björn Höcke den Regierungsauftrag bei seiner Partei. Er wolle mit den anderen Parteien über Koalitionen ins Gespräch kommen, sagte der 52-Jährige, der wegen der Nutzung einer Nazi-Parole vor einigen Wochen in erster Instanz zweimal zu Geldstrafen verurteilt wurde. Höcke verpasste ein Direktmandat in seinem Wahlkreis in Ostthüringen. Er hat jetzt noch die Chance, als Spitzenkandidat über die Landesliste ins Parlament zu kommen.
Die wahrscheinlichste Option für eine Koalition wäre ein nie da gewesenes Bündnis aus CDU, BSW und SPD. Dieser Konstellation fehlt allerdings den Hochrechnungen (Stand 20.30 Uhr) zufolge ein Sitz für die Mehrheit im Landtag. Ein solches Bündnis wäre damit auch auf die Linke angewiesen.
Thüringens CDU-Chef Mario Voigt sieht in den Prognosen den Auftrag zur Regierungsbildung unter seiner Führung, wie der 47-Jährige am Wahlabend sagte. Er kündigte an, auf die SPD zugehen zu wollen und auch zum BSW "gesprächsoffen" zu sein.
Die Option Wagenknecht
Vor allem CDU-Politiker stören sich allerdings daran, dass Wagenknecht Mitglied der DDR-Staatspartei SED war und später eine führende Figur der kommunistischen Plattform in der Linken. Eine Koalition wäre jedoch möglich, denn nach einem Unvereinbarkeitsbeschluss darf die CDU weder mit der AfD noch mit der Linken koalieren - das BSW ist aber nicht davon erfasst.
BSW-Parteichefin Sahra Wagenknecht
Sachsen hat seit der Wiedervereinigung eine CDU-geführte Regierung - seit 2019 steht Ministerpräsident Michael Kretschmer an der Spitze einer Koalition mit Grünen und SPD. Nach den Hochrechnungen (Stand 20.30 Uhr), die von einem Einzug der Linken in den Landtag per Direktmandatsklausel ausgehen, verfehlt die Koalition knapp die erneute Mehrheit. Möglich wäre auch in Sachsen ein Bündnis aus CDU, BSW und SPD. Kretschmer sagte nach den ersten Zahlen, seine CDU stehe bereit, wieder Verantwortung zu übernehmen und eine stabile Regierung zu bilden.
Mit der AfD, die auch in Sachsen als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, will keine der anderen Parteien koalieren. Gewinnt die AfD in Thüringen und Sachsen je mehr als ein Drittel der Landtagsmandate, hätte sie eine Sperrminorität: Entscheidungen und Wahlen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, müssten ihre Zustimmung finden. So werden etwa die Verfassungsrichter vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit gewählt.