Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist und Oppositionelle Can Dündar sieht bei der Stichwahl in der Türkei in knapp zwei Wochen kaum Chancen für einen Sieg des Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
Er erwarte keinen Sieg der Opposition in der zweiten Wahlrunde, sagte Dündar der Nachrichtenagentur AFP.
Erdogan habe nämlich "die Mehrheit nur sehr knapp verfehlt und der mögliche Königsmacher Sinan Ogan steht der Regierung näher als der Opposition", begründete er seine Ansicht.
Zudem sei die Enttäuschung bei den Wählern, die am Sonntag für den Kemalisten Kilicdaroglu gestimmt haben, so groß, "dass es schwierig werden könnte, sie zu einem erneuten Urnengang zu bewegen", sagte Dündar. Einer aktuellen Umfrage zufolge wollen zwölf Prozent der Wähler, die am Sonntag der Opposition ihre Stimme gegeben haben, am 28. Mai der Stichwahl fernbleiben.
"Die Opposition hat in der Wahlnacht eine sehr schlechte Figur gemacht"
"Die Opposition hat in der Wahlnacht eine sehr schlechte Figur gemacht", sagte Dündar der AFP. In kritischen Momenten sei sie nicht präsent gewesen, etwa um die zunächst irreführenden Angaben zu den ausgezählten Stimmen zu korrigieren. Die staatlichen Medien hatten am Wahlabend zuerst vor allem Ergebnisse aus Hochburgen des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan veröffentlicht, so dass der islamisch-konservative Staatschef anfangs bei deutlich über 50 Prozent lag.
"Während Erdogan vom Balkon aus eine Ansprache vor seinen Anhängern hielt, war die Opposition schlichtweg nicht da", kritisierte Dündar. Dieses Verhalten habe für einen großen Vertrauensverlust unter den Wählern gesorgt.
Im ersten Wahldurchgang lag Erdogan am Ende laut Wahlkommission mit 49,5 Prozent der Stimmen vor Kilicdaroglu, der 44,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinte. Der dritte Kandidat und Rechtsnationalist Ogan kam auf 5,2 Prozent. Seine Empfehlung könnte nun den Ausgang der Stichwahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu entscheiden.
Ogan sei ein "großer Unsicherheitsfaktor"
Ogan sei ein "großer Unsicherheitsfaktor", erklärte Dündar. "Wir wissen wenig über ihn und können nicht einschätzen, wie seine Wahlempfehlung ausfallen wird - falls er überhaupt eine ausspricht. Wir wissen nur, dass Ogan sehr rechts eingestellt, gegen Kurden und gegen Flüchtlinge ist, und Erdogan politisch näher steht als Kilicdaroglu", sagte Dündar.
Sollte Ogan bei der Wahl - wider Erwarten - dennoch eine Wahlempfehlung für die Opposition abgeben, könnte er diese an Bedingungen knüpfen, etwa einen Ausschluss der Kurden, die zu den wichtigsten Unterstützern der Opposition zählen.
Auch über die Wähler, die für Ogan gestimmt haben, ist laut Dündar wenig bekannt. "Es scheint sich vor allem um Protestwähler zu handeln, die weder Erdogan noch Kilicdaroglu ihre Stimme geben wollten, und es ist unsicher, ob sie eine Wahlempfehlung überhaupt annehmen würden", sagte Dündar weiter.
Unfairer Wahlkampf?
Die Enttäuschung über den Wahlausgang ist bei der Opposition groß - überrascht hat dieser Dündar aber nicht, der in der Türkei unter anderem wegen angeblicher Spionage zu mehr als 27 Jahren Haft verurteilt worden war. "Wir wussten, dass es nicht leicht werden würde, da der Wahlkampf unfair war und komplett von der Regierung kontrolliert wurde", sagte der ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung "Cumhuriyet". So hätten beispielsweise Erdogan und sein Regierungsbündnis im staatlichen Sender TRT in einem Monat 32 Stunden Sendezeit gehabt, die Opposition hingegen lediglich 32 Minuten.
Auch die Erdbebengebiete konnte Erdogan für sich gewinnen - obwohl sein Krisenmanagement nach der verheerenden Katastrophe im Februar mit mehr als 50.000 Toten große Wut in der Bevölkerung ausgelöst hatte. Im Vorfeld hatte es Befürchtungen gegeben, dass mit den Dokumenten von Toten abgestimmt werden könnte.
"Nach großen Katastrophen stimmen Menschen für Autorität und Stabilität"
"Die Geschichte hat - auch in anderen Ländern - immer wieder gezeigt: Nach großen Katastrophen stimmen Menschen für Autorität und Stabilität", sagte Dündar. "Erdogan versprach den Menschen, schnell neue Wohnungen bauen zu lassen, deshalb gaben sie ihm ihre Stimme - auch wenn sie nicht unbedingt seine Ideologie teilen." In so einem Fall werde praktisch entschieden, nicht politisch, sagte der Journalist.